
Die Partnerstadt der Gemeinde Muttenz, Środa Wielkopolska, hat alles gegeben, wirklich alles! Unser Kulturaustausch mit Polen stellte vieles in den Schatten, was wir bislang auf früheren Chorreisen an Vielfältigkeit der Aktivitäten und Intensität des Austausches erlebt hatten. Środa ist eine Stadt mit 24’000 Einwohnern. Im Gegensatz zur Partnerstadt Muttenz hat sie aber Zentrumsfunktion für ihr Umland. Die Stadt zeigte sich sehr aufstrebend und Muttenz ebenbürtig.
Von Marco Beltrani, Christoph Huldi, Karolina Kowalska und Jürg Siegrist (Video: Tim Vaterlaus)
Wir, die begleitenden Lehrpersonen, berichten hier in verschiedenen Kapiteln von den Erlebnissen:
- Kulturaustausch
- Polen im Wechsel der Generationen
- Kennenlernen einer neuen Gruppe
- Dreisprachiger Austausch
- Katholizismus
- Gymnasium
- Berufsmittelschule mit Berufsfeld Militär
- Gastfreundschaft
- Vielfalt des kulturellen Austausches (Hi)
Konzerte, historische Städte und Austausch mit der Kultur der Gastfamilien kannten wir schon von anderen Konzertreisen, das alleine ist schon eine Reise wert. Doch die Stadt Środa hat uns noch viel mehr Begegnung geboten.
- Diesmal waren die SuS allesamt alleine in einer polnischen Gastfamilie, sie konnten der kulturellen Konfrontation nicht ausweichen. Die meisten hatten sich schon vor der Reise über Social Media kennengelernt und die Vermischung mit den Pol:innen war von Anfang an intensiv. Die Schulen hatten die 60 Gastschwestern und -brüder drei volle Tage freigestellt, damit sie das Programm gemeinsam mit uns machen konnten!
- Wir lernten drei Schulen von innen kennen und besuchten den Unterricht. Die Direktorinnen der beiden Schulen von Środa nahmen an unserem Programm häufig teil. Von den beiden Mittelschulen in Środa berichten wir in Kapitel 6 und 7. Die dritte besuchte Schule, das Musikgymnasium in Poznań, einer Stadt von der Grösse Zürichs, hat ausschliesslich SPF Musik. Das Schulhaus war erfüllt von Musikklängen aus vielen Räumen. Die SuS haben 12 Lektionen Musikfächer pro Woche, für uns Musiklehrer schien das wie Himmel auf Erden zu sein. Zusammen mit dem fantastischen Schulchor und einer Tanzklasse durften wir im akustisch hervorragenden Konzertsaal des Gymnasiums konzertieren. Das Konzert in Poznań war für den Schreibenden der Höhepunkt der Reise.
- Wir fuhren mit der historischen Schmalspurbahn nach Zaniemyśl. Dort spielten wir einen Fussballmatch, Muttenz gewann im ausgeglichenen Spiel 5:4 gegen Środa.
- Wir sangen das erste Open-Air-Konzert der Gym Chor-Geschichte. Das war ein Zufall, weil das Konzert in Środa wegen einem tragischen Unfall ein paar Stunden vor unserer Ankunft verschoben werden musste. Und nur das Amfiteatr neben dem See von Zaniemyśl war verfügbar. Das sonnig-warme Wetter war ein Glücksfall. Die Polen haben sich ein Bein ausgerissen und viel Geld investiert, um uns und alles Nötige inklusive Vollverstärkung dorthin zu bringen. Über 600 Personen besuchten das Konzert!
- Wir konnten eine Vorstellung von Singing in the Rain im Musicaltheater Poznań erleben, alles auf polnisch. Die Vorstellung war exklusiv für uns sowie die SuS der Gastfamilien und des Musikgymnasiums.
- Das Gym Muttenz war in aller Munde. Bei zwei Konzerten und einem Schulkonzert hörten ca. 1’300 Leute den Gym Chor. Der Bürgermeister kam mehrmals vorbei, die Leitung wurde immer wieder mit lokalen VIPs fotografiert, es gab Zeitungsinterviews mit uns, Karolina Kowalska und Joanna Dymurska 3LMZ hatten gar ein halbstündiges Live-Interview im Radio Poznań. Und unsere SuS hatten Britt-Stickers dabei .
- Polen im Wechsel der Generationen (Sg)
Die jüngere Generation Polens hat den kalten Krieg nicht mehr erlebt und konnte in einem Land aufwachsen, das sich seit mehr als dreissig Jahren immer mehr geöffnet und mit Hilfe von EU-Geldern weiterentwickelt hat. Wir trafen neue Sporthallen, Strassen und öffentliche Gebäude an, die sich nicht wesentlich vom westlichen Standard unterschieden. Englisch ist für die junge Generation zur alltäglichen Gebrauchssprache geworden und unsere Leute konnten sich innerhalb ihrer Generation recht gut verständigen.
Die ältere Generation spricht jedoch oft keine westlichen Fremdsprachen. Im besten Fall können die älteren Menschen etwas Deutsch, sicher jedoch kein Englisch. Aufgrund dieses Umstandes waren wir darauf angewiesen, dass wir mit Karolina Kowalska eine Lehrperson an Bord hatten, welche alles übersetzen konnte und uns auch über polnische Gepflogenheiten aufgeklärte. Ohne diese Dolmetscher-Fähigkeiten und die Kenntnisse der polnischen Gesellschaft wäre dieser Austausch kaum möglich gewesen und sozial viel oberflächlicher ausgefallen.
Wir waren als Ehrengäste zur Eröffnung des neuen Fussballstadions eingeladen, an der die ganze lokale Prominenz anwesend war. Der Stolz auf die jüngsten Errungenschaften war an diesem Abend gerade bei der älteren Generation stark spürbar. Die Stadtmusik spielte zum Auftakt auf und es wurde durch alle Ränge hindurch stehend die polnische Nationalhymne gesungen. Die Ambitionen sind hoch und ein Aufstieg der drittklassigen Mannschaft ist Programm. Leider ging das Eröffnungsspiel drei zu eins verloren und der Trainer wurde nach dem Spiel entlassen.
- Dreisprachiger Austausch (Kw)
Der Austausch mit Środawar für mich dreisprachig geprägt. Da meine und ältere polnische Generationen bezüglich Englisch sehr unsicher unterwegs sind, war es notwendig, dass ich bei der Vermittlung zwischen Chorteam und polnischen Gastgebern sehr aktiv war. Mit ihnen sprach ich polnisch, mit dem Chorteam Schweizerdeutsch. Dies war sehr anstrengend, da vieles nicht auf Anhieb so lief, wie geplant und sehr oft entweder von der polnischen oder der Schweizer Seite Bitten, Nachfragen und Abklärungen anfielen. Dass ich gleichzeitig mit den SuS exklusiv – wie auch in der Schule oder im Chorlager – Englisch sprach, vereinfachte die Sache nicht. Das hatte ich mir natürlich selber zuzuschreiben, da das einzige und allein meine Entscheidung war. Abgesehen von der Authentizität meiner Identität als Englischlehrperson, hatte dies einen weiteren Vorteil: Wenn ich mit unseren Leuten auf Englisch kommunizierte, so verstanden die polnischen Schüler*innen ebenfalls, was gerade ablief, bezog diese sofort mit ein und erübrigte oft eine polnische Übersetzung. Ich wurde somit nicht nur Ansprechsperson der beiden Leitungen, sondern auch der Schüler*innen beider Länder. Diese dreisprachige Kommunikation forderte mich sehr. Dennoch war ich froh, damit einen Beitrag an diesem Austausch leisten zu können.
Der Gym Chor führte in Polen das Werk The Drop That Contained the Sea auf, welches für jeden Teil eine andere Sprache nutzt. Wir sangen auf Türkisch, Bulgarisch, Lango (aus Uganda), Mongolisch, Hindi, alt-Isländisch, Swahili und Xhosa, und wir waren auch noch ausgiebig mit Polnisch, Englisch, Deutsch und Schweizerdeutsch konfrontiert.
- Kennenlernen einer neuen Gruppe (Be)
Aufgrund der kurzen Vorbereitungszeit seit den Sommerferien konnten nur diejenigen Schüler:innen des Chores die Reise nach Polen antreten, welche bereits im letzten Schuljahr am Gymnasium Muttenz waren. Und da ich ebenfalls erst seit den Sommerferien da bin, war für mich diese Reise auch deshalb besonders, weil ich die Sänger:innen bisher kaum kennenlernen konnte. Ich fühlte mich also vielleicht ähnlich wie einige Schüler:innen, welche Respekt davor hatten, alleine in einer Gastfamilie untergebracht zu werden.
Nachdem ich mir aber, mit der Unterstützung meiner Kolleg:innen, auf der langen Reise alle Namen gemerkt hatte, erging es mir wie den Muttenzer Schüler:innen in ihren Gastfamilien. Ich wurde ausserordentlich freundlich, unvoreingenommen und offen aufgenommen und hatte viele spannende Begegnungen. Besonders aufgefallen ist mir dabei die Aufgeschlossenheit, welche mir entgegengebracht wurde. Diese widerspiegelt sich in einer Anekdote, welche ich auf der Rückreise in den Gesprächen mit den Schüler:innen aufgeschnappt habe. Darin wurde von einem polnischen Gastbruder berichtet, welcher das Zusammensein mit unseren Schüler:innen extrem geschätzt hatte, weil es für ihn bisher die erste Gruppe von Jugendlichen war, in welcher er sich genau so geben konnte wie er ist, während dem er in anderen Gruppen immer den Impuls hatte, sich der Gruppe anpassen zu müssen. Dies mag auch daran liegen, dass die polnischen Schüler:innen insgesamt etwas jünger waren als die Muttenzer Sänger:innen des Chores. Es deckt sich aber mit meinem Eindruck einer vielseitigen, offenen und herzlichen Gruppe, die neben dem gemeinsamen Musizieren auch viel Wert auf den soziale Austausch legt. Auch dank dieser Einstellung konnten unsere Schüler:innen in einem vorher unbekannten Land viele neue Kontakte knüpfen, und so ihren Horizont erweitern.
- Polnischer Katholizismus (Sg)
«Glaubst du an Gott?», diese Frage wurde mir schon länger nicht mehr gestellt. In Polen ist mir das wieder einmal passiert und es war spannend für mich zu beobachten, wie ich auf diese nicht ganz einfache Frage antwortete.
In Polen hat die katholische Kirche einen hohen Stellenwert und ist seit Jahrhunderten die mit Abstand stärkste Religionsgemeinschaft des Landes. Bis vor kurzem hat der Staat der katholischen Kirche jährlich Millionen bezahlt und die Mitglieder müssen keine Kirchensteuer zahlen. Mehr als 85% der polnischen Bevölkerung gehören der katholischen Kirche an. In jüngster Zeit sind jedoch vermehrt politische Diskussionen rund um die Finanzierung der Kirche aufgekommen. Dieser Konflikt scheint für die polnische Gesellschaft eine recht grosse Herausforderung zu sein.
In schwierigen Zeiten war die katholische Kirche der einzige Zufluchtsort, auf den die Menschen wirklich zählen konnten. Das haben mir mehrere Personen auf unserer Reise erzählt. Vor der Hauptkirche in Środa wurde der letzte Priester in Form einer sitzenden Statue verewigt. Er sei ein sehr humaner, beliebter und wohlwollender Priester gewesen. Besonders während der Zeit, als der Pole Johannes Paul II. Papst gewesen war, dürfte der Katholizismus in Polen einen grossen Aufschwung erlebt haben. Er soll auch wesentlich an der Wende in Polen beteiligt gewesen sein. In der Kathedrale von Poznań ist heute noch ein grosses Portrait von Johannes Paul dem II. zu sehen. Der katholische Glaube ist in der polnischen Gesellschaft immer noch erstaunlich stark verankert.
- Gymnasium in Środa (Hi)
Ich habe mit gut 30 Leuten das Lyceum besucht, so heisst in Polen das Gymnasium. Wir besuchten Deutsch und Englischstunden und es wurden auch gemeinsame Aktivitäten vorbereitet, welche das Ziel hatten, die beiden Schulen zu vergleichen. Dies habe ich erfahren über das Gymnasium:
Am Ende des 8. Schuljahres gibt es eine nationale Prüfung zur Einstufung. An diesem Tag entscheidet sich, welche Schulen man danach besuchen kann. Das Gymnasium dauert 4 Jahre vom 9. – 12. Schuljahr. Es hat ähnliche Profile und Stundentafeln wie wir. Aber es gibt keine Fächer Musik und BG, das ist vom Lehrplan her nicht vorgesehen (was für ein Elend…!! Sie beneiden uns). Die Lehrpersonen sagen nicht: Universität ist eine Option nach dem Abitur. Sie sagen: wir erwarten, dass ihr an die Uni geht.
Das alte Schulhaus hat so enge Gänge und Treppen, dass sich dagegen die Fluren bei uns feudal anfühlen. Doch unsere SuS fanden es schöner als unser Gym. Die meisten SuS kommen mit dem Bus, Busse sind gratis. Velowege auf Strassen hat es einige und die Gegend ist flach, aber kaum jemand kommt mit Velo. Eine Mensa hat es nicht, da für die Mittagspause nur 20 Minuten vorgesehen sind «damit die SuS früher nach Hause kommen». (Eine Mensa haben dafür alle Grundschulen, denn die Lehrpersonen haben den ganzen Tag Aufsichtspflicht und es ist undenkbar, dass Primarschüler:innen in der Mittagspause die Schule verlassen.)
In einer Klasse sind durchschnittlich 30 SuS, maximal 34. Fremdsprachen werden in Halbklassen unterrichtet. 100% Anstellung am Gymnasium bedeutet für Lehrpersonen 18 Lektionen à 45 Minuten pro Woche. Da man aber davon nicht gut leben kann, unterrichten die Lehrpersonen viel mehr, bis zu 30 Lektionen. Somit gibt es für die gut 550 SuS nur 27 Lehrpersonen. Für die Überstunden gibt es offenbar keine Grenze. Aber der Staat bezahlt diese während der Ferien und Feiertage nicht, dann gibt es nur die 18 Lektionen. Kulturellen Austausch pflegt das Gymnasium dank der EU viel mehr als wir, bis November wird auch eine Delegation aus Deutschland und Frankreich kommen.
- Berufsmittelschule mit Berufsfeld Militär (Sg, Kw)
Wir hatten die Möglichkeit, eine Schule für die Berufsfelder Technik und Naturwissenschaften zu besuchen. Es gibt u. A. an der Schule auch das Berufsfeld Militär. In Form von Workshops wurden uns diverse Ausbildungen nähergebracht. Unvergesslich wird mir eine Übung bleiben, in der ich die Insemination einer Kuh an einem Modell ausprobieren musste.
An einem anderen Posten zeigten uns Auszubildende des Miltärzugs die Handhabung von Waffen und gaben Selbstverteidigungskurse. Die Schüler*innen der Militärklassen liefen gemäss Anordnung zwei Tage pro Woche im Kampfanzug auf dem Schulgelände umher. Dies weckte bei mir Assoziationen mit Bildern von Kindersoldaten und liess mich schaudern. Ich versuchte einer Deutschlehrerin zu erklären, dass diese Kleidung an einer Schweizer Mittelschule zurzeit undenkbar wäre. Es entwickelte sich eine spannende Diskussion über traditionelle, gesellschaftliche Haltungen zu Wehrpflicht und Armee.
Ein Instruktor zitierte oft Praktiken aus der ukrainischen Armee und es wurde offensichtlich, dass Polen seine neu errungene Freiheit und Unabhängigkeit unter keinen Umständen wieder verlieren will. Die Deutschlehrerin meinte: «Putin würde uns nur allzu gern auch kriegen…“
Es war auch spannend zu hören, dass die die Schweiz von den Polen als sehr militärisch und Waffenfreundlich angesehen wird. Die Tatsache, dass so viele Schweizer*innen eine Waffe zuhause haben und die Schweiz Waffen produziert und damit handelt, scheint das Bild zu erwecken, dass bei uns eine Waffen- und Verteidigungsgrundausbildung Alltag sei. Dieser Missstand, wie auch die Tatsache, dass unsere SuS dem stolzen Waffendisplay ganz offen skeptisch und oft ablehnend gegenüberstanden, führten zu einer spannenden und aufklärenden Diskussion zwischen unseren Chorleuten, den Schüler*innen der Militärklassen und ihrem Lehrer. Wir erfuhren u. A., dass es immer mehr Frauen in den Militärklassen (bis zu 30%) und im Militär gibt und dass Viele, obwohl ihnen alle Studienfächer zur Auswahl bestehen bleiben, später im Militär oder am Flughafen Arbeit finden.
- Polnische Gastfreundschaft (Sg)
Karolina Kowalska hatte mir schon vor der Reise gesagt, dass Gastfreundschaft in Polen gross geschrieben würde. Was das wirklich bedeutet, wurde mir jedoch erst richtig bewusst, als wir vor Ort waren. Unsere Gastgeber setzten absolut alles daran, uns unseren Aufenthalt so angenehm wie nur möglich zu machen. Viele SuS berichteten, wie sie verwöhnt wurden. Da unser Hotel etwas ausserhalb gelegen war, stellte uns die Stadt während des ganzen Aufenthalts ein Dienstauto zur Verfügung, das wir kostenfrei nutzen konnten. Die halbe Stadtverwaltung war nonstop darum bemüht, uns optimal zu betreuen: Vom Stadtverwalter, über dessen Sekretärinnen, dem Bürgermeister und den Schulleitungen und Deutschlehrpersonen, andauernd waren wir von Gastgebern umgeben, die versuchten, uns unsere Wünsche von den Lippen abzulesen. Bei jedem Empfang gab es Kaffee und Kuchen und die Gastgeber zeigten reges Interesse daran, sich über diverse Fragen zum Projekt und zu den verschiedenen Herkunftsländern auszutauschen.
Ich habe schon viele Chorreisen gemacht, aber ein derart hohes Engagement als Gastgeber habe ich vorher noch nie erlebt. Schon nur das technische Equipment, das am Openair-Konzert von einer professionellen Firma bereitgestellt worden war, würde in der Schweiz einem Gegenwert im fünfstelligen Bereich entsprechen. Es dürfte schwierig werden, auf dieses Engagement beim geplanten Gegenbesuch im Herbst 2025 im richtigen Masse zu antworten, und das bekümmert mich etwas, zumal wir in einem der reichsten Länder der Welt leben…

















