Der Exodus ins Land der Blasphemie

Exodus – eine Auswanderung im grossen Stil? Echt? So wie Moses, als er das Meer spaltete? Naja, nicht gerade so episch, aber so ähnlich habe ich mich gefühlt, als ich am 4. Februar mit viereinhalb Klassen, dank Krankheitsfällen nur noch 75 Personen, in den Zug Richtung Zürich stieg. Für so viele Leute musste die SBB das Obergeschoss gleich zweier Wagons reservieren. Die Stimmung war durchgehend sehr positiv. Die Weltreise konnte beginnen. Wo genau sollte es denn nochmals hingehen? Ah ja, nach Oerlikon, ins Theater 11, wo das provokative und politisch hochinkorrekte Musical „The Book of Mormon“ gespielt wird. Von Karolina Kowalska

Der Zugwechsel in Zürich HB klappte, trotz kurzer Umsteigezeit, wunderbar, was bei einer so grossen Menge an Schüler*innen und nur einer Lehrperson eine stolze Leistung ist. In Oerlikon sind somit alle zusammen, vollzählig angelangt. Die Schüler*innen hatten noch Zeit, wer wollte oder wer lange Unterricht hatte, etwas zum Abendessen zu besorgen. Treffpunkt war 19:10 Uhr vor dem Theater 11.

Vor dem Beginn der Vorstellung verteilte ich die nach Klassen sortierten Tickets, aber es war mir mit so vielen Schüler*innen und den regulären Musicalbesuchern unmöglich festzustellen, ob alle meine Leute da waren. Dann kamen die Resttickets zurück zu mir – das waren etwas mehr, als ich berechnet hatte. Komisch. Aber es war 19:20 Uhr und der Gong läutete nun schon zum zweiten Mal: wir sollten unsere Plätze einnehmen. Als ich mich gerade auf meinen Platz setze, klingelt mein Handy: Zwei Schüler haben das Theater nicht rechtzeitig gefunden, stehen nun draussen und haben kein Ticket. Aha, deshalb waren mehr Tickets übrig als erwartet. Also laufe ich wieder nach draussen und überreiche den verirrten Schäfchen ihre Tickets. Es reicht uns allen rechtzeitig, unsere Plätze zu finden, und schon geht es los: Es wird dunkel im Saal, es ertönen kirchliche Stimmen, die Beleuchtung der kirchenartigen Bühnenumrahmung erstrahlt, und auf der Bühne ertönt eine junge Männerstimme: «Hello!».

The Book of Mormon ist ein amerikanisches Musical aus dem Jahr 2010, geschrieben von Trey Parker, Robert Lopez und Matt Stone, das mit über 5000 Vorstellungen am Broadway und Einnahmen von über $800 Millionen zu den erfolgreichsten Musicals der Musicalgeschichte zählt. Es ist wohl das politisch inkorrekteste Musical aller Zeiten. Dies ist auch kein Wunder, denn die Autoren waren schon vor dem Musical bekannt für ihre Fernsehserie «South Park», eine bitterböse Satire. So zieht sich denn auch der rabenschwarze Humor durch das ganze Musical und macht vor nichts halt. Stereotypen werden bekanntlich gerne in Musicals benutzt, um der breiten Masse den Zugang zu erleichtern. Allerdings sprechen wir bei The Book of Mormon von einem ganz anderen Kaliber. Hier bedient man sich nicht nur der Stereotypen, sondern treibt sie auf die Spitze – ad absurdum.

Die Geschichte handelt vom mormonischen Missionarspaar Price, dem Starschüler, und Cunningham, dem «weirdo», den niemand mag – nicht einmal seine Eltern. Sie werden nach Uganda geschickt und sollen dort die Einheimischen, die unter Armut, Hunger, AIDS und dem brutalen Warloard General Butt Fucking Naked leiden, zum Mormonentum bekehren. Elder Price gibt schnell auf, während der tolpatschige und gutgläubige Elder Cunningham plötzlich Erfolge bei der Tochter des Dorfvorstehers Nabulungi verzeichnet. Weitere Dorfbewohner gesellen sich bald dazu und Cunningham, der das Book of Mormon nie gelesen hat, weil es so langweilig ist, leimt nun eine neue Version aus den ihm bekannten Stücken des heiligen Buches, Star Wars, Star Trek und The Lord of the Rings eine durchaus spannendere Geschichte zusammen, die dazu führt, dass das ganze, zuvor pessimistische, Dorf Vertrauen und Mut fasst und sich taufen lässt. Price realisiert seinen Fehler und kommt zurück, doch die Beziehung zwischen Price und Cunningham ist angespannt. Hinzu kommt, dass das Dorf aufgrund der rekordverdächtigen Zahl an Taufen von einer Mormonenkommission besucht werden soll, die die erfolgreichen Missionare loben will. Bei deren Ankunft präsentieren die Dorfbewohner der Kommission ein Theaterstück, in dem sie die von Cunningham frei zusammengesetzte Version des Book of Mormon aufführen. Diese stösst auf Ablehnung und die Mission soll geschlossen werden. Aber Elder Price besinnt sich, dass es keine Rolle spielt, ob man sich wortgetreu an eine heilige Schrift hält, solange man damit Gutes bewirkt und Leuten Hoffnung und Kraft schenken kann. Das Ende sei hier jedoch nicht verraten.

Man würde meinen, dass Mormonen dieses Musical für eine Beleidigung ihres Glaubens betrachten würden. Tatsache ist, dass bei Premieren an einem neuen Ort, so auch bei unserem Besuch in Zürich, nach der Vorstellung freundliche Mormonen vor dem Theater stehen, die gerne Auskunft über ihre Religion und das Buch der Mormonen geben. Die mormonische Kirche ist dem Musical neutral gesinnt. Sie erklärt, dass sich das Musical zwar Karikaturen und starke Vereinfachungen bediene, aber dass der mormonische Glauben stärker sei als unterhaltsame Witze.

Und nun stellt sich die Frage: Warum geht man so ein Musical mit seinen Schüler*innen schauen? Einfach: Weil es ein einmaliges Erlebnis ist und viel Stoff zum Nachdenken gibt. Wie Lehrpersonen dies gerne tun, durften meine Schüler*innen das Musical nicht einfach tatenlos geniessen, sondern mussten eine Rückmeldung, die sich auf den Humor der Show bezog, schriftlich abliefern. Die Reaktionen waren sehr gemischt. Viele haben sich im Musical köstlich amüsiert und surften die Welle der political incorrectness mit. Andere amüsierten sich über gewisse Witze, kritisierten aber einiges als unter der Gürtellinie oder als respektlos. Während „You and Me (But Mostly Me)“ alle zum Lachen brachte, stiess das Lied Hasa Diga Eebowai (übersetzt: F*** You, God) auf eine Mischung aus Unwohlsein und Ablehnung. Obwohl die Botschaft des Musicals – Heilige Schriften müssen nicht wörtlich genommen werden, damit Glaube (nicht nur religiöser Natur) Hoffnung und Kraft gibt und Positives bewirken kann – eine sehr positive Botschaft darstellt, so sind gewisse Mittel, die die Macher einsetzen, um Leute zu schockieren und unterhalten, nicht jedermanns und jederfraus Sache. Auch wenn einige Schüler*innen Bedenken formulierten, dass das Musical unfaire und diskriminierende Vorurteile verstärken könnte, so ist die Absicht des Musicals klar aufzuzeigen, wie oberflächlich und stupide solche Vorurteile und wie ignorant Menschen Menschen sind, die an diese Stereotype glauben. Manche Schüler*innen erkannten auch, dass es gut tut, wenn man gewisse Themen nicht ins Bodenlose ernst nimmt, oder auch, dass der konfrontative Schock zum Nachdenken anregen kann. Das Fazit des Exodus ins Land der Blasphemie: Viele haben sich «einen Schranz gelacht», doch einigen ging der Humor etwas zu weit. Wichtig: Alle haben sich Gedanken dazu gemacht, was auf einer Bühne dargestellt werden und worüber man lachen darf und soll.

Traurig ist, dass in den USA tatsächlich viele Leute an diesen Vorurteilen festhalten und somit sich selbst und anderen im Weg stehen. Wahrscheinlich ist Europa ein dankbares Publikum, da das Musical zwar rassistische Vorurteile und das Mormonentum auf die Schippe nimmt, aber doch am meisten die Gesellschaft kritisiert, die das Musical hervorgebracht hat: sich selbst.


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