«Und uf eimol hesch d’ Verantwortig über Hunger und satt!»

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Seit 1966 verwandelt sich die schöne Barockstadt an der Aare Ende Januar jeweils für acht Tage in die Hochburg der Schweizer Filmkultur. Die Solothurner Filmtage sind das bedeutendste Festival für Schweizer Filme. Mit mehr als 65‘000 Eintritten gehören die Filmtage zu den renommiertesten Kulturveranstaltungen der Schweiz. Der Wahlkurs «Psyche im Film» war dabei.

von Ramona Weber (Text und Foto)

Mittwoch, 29. Januar 2020, acht Uhr. Der Regen prasselt ans Fenster. Zusammen mit dem Wahlkurs “Psyche im Film” sitze ich im Zug nach Solothurn. Es ist der letzte Tag der 55. Solothurner Filmtage. Auf dem Plan für heute stehen drei Filmvorführungen: der Eröffnungsfilm des Festivals «Moskau einfach» über den Fichenskandal Ende der 1980er Jahre, der Dokumentarfilm «Volunteer» über die Flüchtlingssituation auf Lesbos und der Dokumentarfilm «Der Bär in mir».

In neun Kinos werden dieses Jahr vom 22. bis zum 29. Januar 178 Schweizer Spiel-, Dokumentar- und Kurzfilme gezeigt. Das Drumherum ist Begegnungsraum und Plattform für Austausch, Gespräche und Diskussionsrunden. Und genau letztere hat Anita Hugi dieses Jahr neu aufleben lassen. Seit August 2019 ist sie die neue Direktorin der Solothurner Filmtage. Nach Seraina Rohrer übernimmt sie als zweite Frau in der Geschichte des Festivals dieses Amt.

Als wir in Solothurn aus dem Zug steigen und uns im Nieselregen auf den Weg zur Reithalle machen, begrüssen uns an jeder Strassenecke die schwarzen Werbebanner und die gepunkteten, leuchtenden Informationssäulen des Festivals. In der grau verhangenen Stadt verbreiten wenigstens sie ein bisschen Glamour.

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Im Kalten Krieg

Die Stimmung in der Reithalle, dem mit 800 Plätzen grössten Veranstaltungsort, ist aufgekratzt. Wir sitzen in einer Schülervorstellung und fast alle Plätze sind besetzt. Entgegen meiner Erwartung hat es auch sehr viele junge Schülerinnen und Schüler, die aufgeregt durcheinander plappern. Auch bei unseren Lehrerinnen, Maya Rechsteiner und Ines Siegfried, spürt man die Aufregung und flammende Begeisterung für die Solothurner Filmtage und die Freude darüber, diese mit uns Schülern zu besuchen. Vor mir auf der Leinwand verändert sich das schwarz-weisse Logo der Filmtage zu immer neuen Formen, während wir darauf warten, dass es endlich losgeht.

«Moskau einfach» war der Eröffnungsfilm des Festivals. Anita Hugi erhoffte sich mit dieser Wahl ein etwas jüngeres Publikum anzulocken. Der Film ist eigentlich eine Komödie, hat aber auch Züge einer Politsatire, Liebesgeschichte und Geschichtsstunde und deckt so ein breites Publikumsspektrum ab. Der Film basiert auf realen Ereignissen: Im Kalten Krieg hat die Bundespolizei mit Hilfe von Privatpersonen ohne gesetzliche Grundlage rund 700‘000 Schweizer bespitzelt, die sich in den Augen der Überwacher in irgendeiner Art und Weise unschweizerisch und damit verdächtig verhalten haben. All die gesammelten Informationen wurden auf Karteikarten, sogenannten Fichen festgehalten.

Der Film spielt im Jahr 1989, als der Fichenskandal öffentlich wurde. Der Polizist Viktor Schuler (Philipp Graber) wird von seinem Chef (Mike Müller) als verdeckter Ermittler ins Zürcher Schauspielhaus geschickt, um Informationen über linke Theaterleute zu sammeln. Als ihm das Theater mehr und mehr ans Herz wächst und er sich in Odile verliebt, die er eigentlich observieren soll, muss er eine Entscheidung treffen. Während des Films beobachte ich die Reaktionen des jungen Publikums vor mir. Mir fällt auf, dass vielen noch das Verständnis dafür fehlt, was ein solcher Skandal bedeutet, oder dass sie von ihren Lehrpersonen vielleicht auch gar nicht ausreichend auf den Inhalt des Films vorbereitet wurden. Ich hätte mir den Film gerne noch einmal mit erwachsenem Publikum angesehen, um die Reaktionen der Menschen zu beobachten, die dabei waren, als dieser Skandal aufgedeckt wurde.

Nach diesem ersten Film und einem Gruppenfoto machen wir uns in kleinen Grüppchen auf den Weg in die Stadt, auf der Suche nach einem Zmittag. Merkte man am Morgen noch nicht so viel von dem Ausnahmezustand, in dem sich die Stadt befindet, so wird er jetzt umso deutlicher. Viele Lokale sind schon gut besetzt, fast alle Restaurants und Cafés haben bereits jetzt, um halb elf, ihre Küche offen, um die Besucher zu verpflegen, die zur normalen Mittagszeit bereits wieder in einem Kino sitzen möchten. Wir entscheiden uns schliesslich dazu, in der Genossenschaftsbeiz Kreuz zu essen. Eine angenehme Wärme und die Werbeplakate des Festivals empfangen uns. Angeregt diskutieren wir beim Essen über den gesehenen Film und dessen politischen Hintergrund und die zwei Filme, die uns noch erwarten.

Im Flüchtlingslager

Wir treffen uns um 13 Uhr im Cavana, einem Kino direkt an der Hauptstrasse hinter dem Bahnhof. Während die Reithalle bis auf die Reihen schwarzen Plastikstühle und die grosse Leinwand nicht besonders viel Ähnlichkeit mit einem Kino hatte, sitzen wir nun in richtigen, blutroten Kinosesseln, in einem richtigen, wenn auch eher schmalen Kinosaal.

Wir schauen uns «Volunteer» von Anna Thommen und Lorenz Nufer an. Fünf Schweizer erzählen darin, wie sie ihren Freiwilligendienst auf den Inseln Lesbos und Samos erlebt haben und wie dieses Erlebnis ihr Leben verändert hat. Während wir hier behütet in der Schweiz leben und uns mit unseren First-World-Problems beschäftigen, liegt dort die ganze Verantwortung für die Flüchtlinge bei den Volunteers. Die Essensrationen sind auf 1500 Portionen pro Tag beschränkt, «und uf eimol hesch d’ Verantwortig über Hunger und satt». Manchmal sind es 6‘000-8‘000 Flüchtlinge, die innerhalb eines Tages in Griechenland ankommen. 10 Tonnen Brennholz reichen gerade so aus, um 20 Prozent des Lagers für eine Nacht zu versorgen. Riesige Dimensionen, die für mich gar nicht richtig greifbar sind. Neben den eigentlichen Filmaufnahmen, die während einer Woche im Jahr 2018 entstanden sind, wurden auch sehr viele private Handyaufnahmen und verschiedene Fotos verwendet, welche geflüchtete Menschen von ihren Familien dabeihatten. Die verwendeten Gopro-Aufnahmen vermitteln mir das Gefühl, dass es nicht darum ging, möglichst ästhetische Kameraperspektiven und -einstellungen zu finden, sondern dass vor allem Information und die aufrüttelnde Wirkung im Vordergrund stehen sollen. Obwohl auch diese Vorstellung eine Schülervorstellung ist, ist die Stimmung ganz anders. Die Mehrheit des Publikums ist in unserem Alter und man spürt, dass der Film auch den anderen sehr nahe gegangen ist. Im anschliessenden Gespräch erklärt uns der Regisseur Lorenz Nufer noch einiges zum Film und den Hintergründen und beantwortet unsere Fragen.

In Gedanken noch ganz im Flüchtlingslager machen wir uns auf den Weg zurück in die Reithalle für unseren letzten Film: «Der Bär in mir». Wir sind spät dran und müssen uns beeilen, die Reithalle ist bereits gut gefüllt, als wir ankommen.

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In der Wildnis

Der Schweizer Dokumentarfilmer Roman Droux hat sich einen Kindheitstraum erfüllt und den jungen Berner Biologen David Bittner einen Sommer lang nach Alaska zu den Grizzlybären begleitet. In der unberührten Wildnis Alaskas, wo nur ein Kuhfänger die Zelte der beiden vor ungebetenem Bärenbesuch schützt, lebten sie den Sommer über bei den Bären. Der Film zeigt in atemberaubenden Bildern mit eindrücklichen Gross-, Detail- und Slow-Motion-Aufnahmen das Leben der Grizzlys, nicht nur die schönen, sondern auch die grausamen Aspekte der Natur. Man spürt die aufrichtige Begeisterung und Ehrfurcht von David Bittner für diese grossen Tiere und die Verbundenheit, die er zu ihnen aufgebaut hat in all den Sommern, die er mit ihnen verbracht hat.

Vom thematischen Schwerpunkt des Festivals, Filmen von und über Frauen, haben wir heute nur einen kleinen Einblick bekommen. Als weibliche Protagonisten haben wir Odile in «Moskau einfach» als eine sehr charakterstarke Rolle, und im Film «Volunteer» Anna Thommen als Regisseurin, die im Übrigen selbst Schülerin am Gym Muttenz war. Auch heute ist es noch so, dass die Filmbranche eher männerdominiert ist, was auch der Grund dafür ist, dass sich Anita Hugi für diesen Schwerpunkt entschieden hat. Bei den Solothurner Filmtagen allerdings beträgt die Frauenquote zumindest bei den kurzen und mittellangen Filmen 50 Prozent.

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Es ist immer noch grau und nass als wir wieder im Zug nach Basel sitzen, glücklich, aber auch ein bisschen müde und platt nach diesen vielen Eindrücken und Gefühlen, welche die Filme in uns ausgelöst haben.