Was willst du denn einmal werden?

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Herzliche Gratulation, Silvan, Matur geschafft!

von Silvan Ladner (Fotos: Nu)

Es war einmal in einer längst vergangenen Zeit in einem beschaulichen Dorf. Dort lebte ein Vater mit seinem Sohn über seiner Schneiderwerkstatt. Eines Tages, als der betagte Vater für die Arbeit zu fragil geworden war, übernahm sein Sohn die Werkstatt. Mit Herzensblut schuftete auch dieser bis ans Ende seiner Tage, damit wiederum sein Sohn die Schneiderwerkstatt weiterführen konnte. Dass sich der Sohn von der Familientradition distanzieren würde, war schlichtweg undenkbar. Für gewöhnlich arbeitete man damals im elterlichen Betrieb. Zimmermänner, Bauern und Schuhmacher gingen Generation für Generation ihrem Handwerk nach. Jeder und alles hatte einen festen Platz. Andere Optionen gab es zu dieser Zeit nur wenige. Ja, so einfach war das einmal. Dieses strikte Kastensystem folgt jedoch dem simplen Prinzip aller Systeme. Nichts ist beständiger als der Wandel und somit ist auch kein System für die Ewigkeit bestimmt. Et voilà, die Generation Z gedeiht fernab von diesen alten Gepflogenheiten.

Nach dem Gymi das Überangebot

Meine Grosseltern, Nachbarn und Bekannten fragen erwartungsvoll mit grossen, glänzenden Augen, was ich einmal werden möchte. Aber, welch eine Überraschung, da gibt es leider kein Einmal. Auch kein Zweimal oder Dreimal, sondern ein Viermal und Fünfmal. „Nachem Gymi möchti eigentlich studiere“, antworte ich vage. Diese in meinem Kopf eingebrannte Standardantwort rutscht mir mittlerweile jedes Mal beinahe schon als eine Art Reflex über die Lippen. Überflüssig kundzutun, dass mir weit über hundert Studienrichtungen offenstehen und ich mich ganz ehrlich noch nicht konkret festlegen mag. Wie soll das auch möglich sein bei diesem Angebot? Die meisten meiner Freunde können ja nicht einmal ihr Lieblingsschulfach benennen. Nachgefragt wird deshalb nicht mehr gross. Meine Antwort wird bis zum nächsten Mal akzeptiert. Hauptsache ist ja immer noch, dass ich wohlauf bin. Man kann sich auch den Spass erlauben und erzählen, dass man nach einer abgeschlossenen kaufmännischen Lehre mit Berufsmatura bei einer Bank, der ein Praktikum in einem Kinderhort vorausgeht, die Passerelle absolviert, um anschliessend an der renommierten Universität von London Mode zu studieren. Nach drei Jahren nimmt man eine Richtungsänderung vor und setzt sich mit Germanistik auseinander, bis man sich als Quereinsteiger in einer Nischenbranche versucht, nur damit man nach fünf Jahren selbstständiger Arbeit alles hinschmeisst und später in den Berner Alpen Poweryoga unterrichtet und Entspannungsspaziergänge mit Lamas anbietet. Früher eine regelrechte Utopie, heute noch nicht einmal aussergewöhnlich. Wenn uns unsere Position nicht gefällt, so drücken wir den Restart-Button und im nächsten Augenblick liegt uns ein neues Berufs- oder Betätigungsfeld zu Füssen.

Online-Anleitungen für alles

Nun gut, ein klein wenig überspitzt geschrieben ist diese Passage schon, aber der Grundgedanke stimmt. Spätestens wenn unser Knowhow nicht mehr ausreicht, suchen wir online die Anleitung dazu. Ganz egal, ob es darum geht, wie man einen Apfel isst, den Weihnachtsbaum schmückt, die Haare färbt oder sich die sieben No-Gos für das erste Date nochmals verinnerlichen möchte. Von Sprach- über Kochkurse, Lernvideos zu komplexen Biologiethemen, nicht zu vergessen die Gesundheits- und Ernährungstipps, bis hin zum Handstand-Tutorial nutze ich regelmässig die ganze Bandbreite dieser kostenlosen Weiterbildungsmöglichkeiten auf YouTube. Aber nicht nur diese Plattform bietet unzählige Möglichkeiten. Es gibt so viele Chancen und Optionen, die ich alle schon am eigenen Leib erfahren durfte. Ein Städtetrip nach London oder eine längere Reise in den Süden. Die Ferienbuchung über das Internet oder klassisch im Reisebüro tätigen. Die Billette für die öffentlichen Verkehrsmittel auf dem Smartphone kaufen oder als einen Fetzen Papier. Frische Sushi oder hawaiianisches Huli Huli Chicken zum Mittagessen. Einfach grossartig, wenn man alles zur Auswahl hat.

Die Gedanken kreisen unablässig um die zahlreichen Möglichkeiten und der Geist kapiert ziemlich schnell: „Ich bin privilegiert, alles Erdenkliche zu werden, habe aber auch die Qual der Wahl.“ Die Generation Z der Schweiz muss sich nun fragen, ob diese unbegrenzten Alternativen den Alltag tatsächlich vereinfachen. Nicht alle Menschen funktionieren gleich. Einige besser, wenn klare Gesetze und Strukturen bestehen, andere wiederum, wenn sie sich möglichst frei ausleben dürfen. Aber Achtung, denn unzählige Möglichkeiten bedeuten auch, ohne Ende zu versagen. Wie viele Fehlschläge erlaubt sind, ohne anschliessend als der grosse Loser dazustehen, weiss ich nicht. Glücklicherweise haben wir wiederum das Privileg, uns zigtausender Möglichkeiten zu bedienen, um uns aus diesem Schlamassel zu befreien. Eigentlich sollten wir weniger über die Kehrseite der Medaille nachdenken, sondern müssten uns glücklich schätzen, so viele Möglichkeiten zu haben. Dies nicht nur in beruflicher Hinsicht. Die Diversität ermöglicht uns auch eine ausgefüllte Freizeit, welche für die Generation Z einen hohen Stellenwert hat.

Ist nie genug?

Aber irgendwann ist das Limit oder besser gesagt der Punkt erreicht, an dem das Ganze zu weit geht. Spätestens wenn ich sehe, dass Berufe wie Influencer wie Unkraut aus dem Boden schiessen, kriege ich akutes Kopfschütteln. Das mag ja vielleicht nicht allen so gehen – ein mit nur heisser Luft gefüllter Kopf lässt sich wahrscheinlich auch schlecht schütteln, aber unbegrenzte Möglichkeiten haben eben doch eine Schattenseite. Der Mensch weiss bekanntlich nicht immer, wann genug ist. Ist Shopping in New York ein Menschenrecht? Ist eine Echtpelzjacke wirklich nicht nötig? Fliege ich von Basel nach Zürich? Ist Mayonnaise ein Instrument? Irgendwann wird es einfach lächerlich mit diesem «alles ist möglich, alles geht immer und überall, alle Türen stehen offen»! Fast verzweifelt wünsche ich mir längst vergangene Strukturen daher, denn es ist echt stressig, sich im Supermarkt zwischen dem glutenfreien, entkoffeinierten Kaffee Latte mit Chiasamen und zweieinhalb Prozent Milchfettanteil und dem glutenfreien, entkoffeinierten Kaffee Latte mit Chiasamen und dreieinhalb Prozent Milchfettanteil zu entscheiden. Muss das unbedingt sein? Nein, Danke!

Auf der Generation Z lastet ein gewaltiger Druck. Bei all diesen Entscheidungen kann sie doch unmöglich immer die richtige treffen. Es ist ein Irrglaube, es sei ein Leichtes, sich den perfekten Lebensweg aus diesen unbegrenzten Möglichkeiten zusammenzustellen. Wo früher noch ein in Stein gemeisselter Pfad war, ist heute eine brühige Suppe, in der man zwar von Tellerrand zu Tellerrand schwimmen, jedoch nur schwer richtig Fuss fassen kann.

Am besten kippe ich diese elende Brühe doch aus.

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