Gedankenverloren lief ich in die Küche und stürzte dort erst einmal ein Glas Milch herunter. Den Zug hatte ich sowieso verpasst. Bis der nächste kam, konnte ich es eigentlich gemütlich nehmen. Oder… die Alternative liess mich trotz Mums Warnungen nicht los. Klar, ich riskierte dabei was. Aber mal ehrlich, der Himmel war grau verhangen wie sonst was. Wer würde das schon mitkriegen? Und ich war auch kein kleines Kind mehr. Ich wusste, wie man dafür sorgte, dass die Leute einen nicht dabei sahen.
Meine Zweifel machten der Entschlossenheit Platz. Ich würde es tun. Hastig stolperte ich die Treppe hoch in mein Zimmer und begann meine Schultasche in den schmalen Rucksack umzupacken. Aus dem Kleiderschrank schnappte ich mir mein Lieblings-T-Shirt, zog mein anderes aus und warf es in den Rucksack. Eine richtige Jacke stopfte ich noch hinein, dann holte ich meine Wohlfühlklamotten hervor, zog sie an, legte meine Schutzlinsen ein und rieb mir das Gesicht mit der Talgcreme ein.
So ausstaffiert marschierte ich auf den Balkon hinaus. Eigentlich nicht gerade ideal, aber was soll´s?
Ich schaute mich noch einmal nach allen Seiten um. Niemand zu sehen. Wie auch? Es war früher Morgen und wir lebten ziemlich abgelegen. Dennoch, Vorsicht war besser als Nachsicht.
Aufgeregt flüsterte ich leise die beschwörenden Worte. „Apaenen wengal.“
Es dauerte einen Moment, bis sie sich entrollten und durch die Löcher im T-Shirt den richtigen Weg gefunden hatten. Es gab kurz ein sehr unangenehmes Ziehen. Dann aber spürten meine Flügel die Morgenluft und ich fühlte mich seit langem wieder vollständig.
Zögerlich streckte ich meine Flügel aus. Sie mussten sich erst wieder daran gewöhnen, an der frischen Luft zu sein. Mein letzter richtiger Flug lag inzwischen einen Monat zurück. Um mich ein wenig aufzuwärmen, flatterte ich ruckartig mit ihnen und sprang dann mit einem weiteren Aufschlag auf das Geländer. Einen kurzen Moment lang hing ich dort in der Schwebe, dann liess ich mich geradewegs nach unten fallen.
In Annika Tillmanns Kurzgeschichten prallt die Welt der Jugendlichen auf die der Erwachsenen. Kleine Fluchten, Missverständnisse und Tragisches ereignet sich, das von Annika Tillmann mit Ökonomie, Genauigkeit und Stimmigkeit zur Sprache gebracht wird. Ihre Kurzgeschichten leben von der überraschenden Dramatik und der Doppelbödigkeit der Realität. So kann es passieren, dass eine Verspätung eine Schülerin zwingt, ihren Schulweg statt im Zug im Flug mit eigenen Flügeln hinter sich zu bringen, und schon erlebt der Leser diesen feinen Riss des Fantastischen in der Realität, in dem die Vermutungen, aber auch die Ängste der Protagonisten Einlassen finden.
Von den besten literarischen Maturarbeiten im Raum Basel wurde Annika Tillmann neben vier andern Schülerinnen und Schülern aus Baselland ausgewählt, ihre Texte an der BuchBasel am 25. Oktober 2013 vorzustellen. Die Schweiz am Sonntag schreibt über ihren Auftritt: „Annika Tillmann verblüffte mit einer präzis sich entwickelnden, dialogischen Kurzgeschichte“. (Martin Dean)