Ein Festival für Geist und Sinne

von Daniel Nussbaumer und Timo Kröner (Fotos: Nu)

Es wird langsam hell. Der Vorplatz des Kultkinos in Basel füllt sich allmählich mit Gymnasiasten aus Muttenz. Sie verteilen sich zielstrebig auf die drei Kinosäle. Den Weg zum etwas abseits gelegenen Stadtkino müssen einige allerdings noch suchen. „Wenn Sie Fragen haben, wenden Sie sich an die Leute mit Schildern“, erklingt die Durchsage aus dem Lautsprecher des Kultkinos Atelier. Die „Leute mit den Schildern“ sind Schülerinnen und Schüler des Filmwahlkurs des Gymnasiums Muttenz, deren Auswahl von zwölf Filmen zum Thema: „Vom Versuch, richtig zu leben“ heute gezeigt wird. Alle Schülerinnen und Schüler sehen an diesem Tag drei dieser Filme, die sie zuvor an der Schule individuell ausgewählt haben.

20131022-1001393-Bearbeitet.jpgZu Beginn der ersten Film-Schiene begrüsst uns Bernhard Bonjour, der zusammen mit Eric Schmutz den Filmwahlkurs leitet: „Der Filmkulturtag hat seinen Sinn, wenn er ein sinnliches und intellektuelles Ereignis für Sie wird.“ Zwei Schülerinnen dieses Wahlkurses stellen den ersten Film vor. Für sie geht es bei „Winter’s Bone“ um einen Versuch, in einer extrem schwierigen Umgebung zu leben. Die 17-jährige Protagonistin muss ihren drogensüchtigen Vater finden, während sie sich in einer gewalttätigen und hoffnungslosen Umgebung um ihre kleineren Geschwister und um ihre depressive Mutter kümmern muss. Für die vorstellenden Schülerinnen besteht der Reiz des Filmes darin, dass er mit einer sehr hohen ästhetischen und dokumentarischen Authentizität einen gesellschaftskritischen Krimi erzählt. Damit ist schon mal klar, dass es sich bei der Auswahl der Filme nicht um kommerziellen Mainstream handelt, sondern um unabhängiges und durchaus anspruchsvolles Autorenkino. Trotzdem oder gerade deswegen sind die Jugendlichen während des Films so gebannt, dass kaum eine oder einer sein Handy zückt.

20131022-1001421-Bearbeitet-2.jpgInzwischen ist es draussen hell. Das nutzt das Team von Tele Basel, um Interviews mit Bernhard Bonjour und mit zwei Teilnehmenden des Filmwahlkurses zu führen. Die Filme wirken auch noch in der Pause, nicht nur auf dem sonnigen Vorplatz, sondern auch in der langen Schlange auf der Treppe zum Klo hinunter und am Getränkestand. „Die sind in Bab‘ Aziz die ganze Zeit durch die Wüste gelaufen und haben irgendwas gesucht.“ Noch grössere Interpretationsspielräume eröffnen die Filme der zweiten Zeitschiene, weil sie auch filmästhetisch komplexer gestaltet sind. Darum hat der Filmwahlkurs zu diesen Filmen nach dem Mittagessen Diskussionen mit Filmfachleuten organisiert.

20131022-1001406-Bearbeitet-2Die „War Witch“ ist eine 12-jährige Kindersoldatin im Kongo. In Anbetracht ihrer Schwangerschaft emanzipiert sie sich von der Abhängigkeit der Rebellenmilizen, in die sie auf brutalstmögliche Weise gezwungen wurde, indem sie als Kind ihre Eltern erschiessen musste. Diese erscheinen ihr wie die anderen Getöteten in surrealen Szenen immer wieder als Geister, dargestellt als weiss angemalte Schemen mit leblos kalten Augen. Die zwischenmenschlichen Beziehungen und die Handlungsmotivation der Protagonistin, im Film mit starken Bildern dargestellt, werden in der Diskussion von den Jugendlichen präzise erkannt und beschrieben.

Aber davor haben die Schüler im Foyer des Theaters gemeinsam zu Mittag gegessen. Das Mittagessen ist wie die Getränke Teil des Festivals und die Gespräche dabei sind entsprechend angeregt. Kein Wunder, alle vierten und dritten sowie einige der zweiten Klassen, die sich angemeldet haben, sind im Foyer versammelt. Die Mensa in Muttenz wird um gleich viel leerer sein wie das Schulhaus. Und trotzdem erfahren die Schülerinnen und Schüler hier am Filmkulturtag Bildung im Sinne einer kulturellen, politischen und ästhetischen Horizonterweiterung, wie sie im Normalunterricht nicht stattfinden kann. Für eine Auseinandersetzung mit innovativem Filmschaffen aus aller Welt braucht es – im Gegensatz zur Auseinandersetzung mit anspruchvoller Literatur – einen solchen besonderen Rahmen, wie ihn der Filmkulturtag etabliert hat. Er findet im Zweijahresrhythmus zum fünften Mal statt und wird vom Basler Schulblatt (2013/10) für andere Gymnasien zur Nachahmung empfohlen.

20131022-1001471-Bearbeitet-2Als sich zum dritten Mal die Kinosäle füllen, stehen Diskussionen zu jedem der vier Filme aus der zweiten Zeitschiene auf dem Programm. Der Berner Regisseur Dieter Fahrer zeigt in seinem Dokumentarfilm „Thorberg“, wie Schwerverbrecher in der Schweiz ihre Haftstrafe verbüssen und über ihr Leben reflektieren. Er erklärt in der Diskussion, die von Schülern des Wahlkurses geführt wird, wie er 150 Stunden gefilmtes Dokumaterial durch bewusste Auswahl so zu einem Film verdichtet hat, dass keine Klischees bedient werden. In den Diskussionen zeigt sich insgesamt, dass Filme-Schauen eine Kulturtechnik ist, die von unseren Schülerinnen und Schülern auf einem hohen Niveau beherrscht wird. Die Fragen decken verschiedene Elemente der Bildsprache, der Szenengestaltung und der Handlungsstruktur ab.

Filmkulturtag_2013_1.jpgWunderbarerweise lassen sich unsere Schüler nach zwei anspruchvollen Filmen und einer nicht minder anspruchsvollen Diskussion auch noch von einem dritten anspruchsvollen Film beeindrucken und mitreissen. Das liegt im Falle von „Machuca“ vor allem daran, dass der Film sein Thema der sozialen Ungerechtigkeit in Chile Anfang der 70er-Jahre am Beispiel einer Freundschaft zweier Schuljungen aus unterschiedlichen sozialen Schichten darstellt. Der Film endet mit der Gewalt der Militärdiktatur, erzählt in kalten Grün- und Weisstönen. Wir verlassen das Kino. Bereichert, inspiriert, nachdenklich. Uns empfängt ein herbstliches Himmelsblau und das warme Rot und Gelb der Platanenblätter. Das Quietschen des Trams und das Plätschern des Tinguelybrunnens holen uns in die Basler Alltagswirklichkeit zurück.