Das Gymnasium Muttenz ist eine UNESCO-assoziierte Schule. Das bedeutet, dass Kernthemen der UNESCO – Friedensarbeit, Menschenrechte und interkultureller Austausch – auch an unserer Schule thematisiert werden sollten.
von Jürg Siegrist in Zusammenarbeit mit Laura Häusler; Fotos: von der Workshop-Leitung zur Verfügung gestellt
Genau für diese Bereiche setzt sich das Pestalozzidorf in Trogen seit Jahrzehnten ein. Ursprünglich wurde das Dorf gegründet, um kriegstraumatisierten Kindern und Jugendlichen nach dem Zweiten Weltkrieg in Form von Ferienlagern eine andere Perspektive zu bieten. Die Idee war, sie ihrem teilweise hochproblematischen Umfeld in der Nachkriegszeit für kurze Zeit zu entziehen. Heute bezieht sich die Arbeit des Pestalozzidorfs vor allem auf internationale Entwicklungsprojekte im Bildungsbereich und interkulturelle Austauschprojekte. Ganz im Sinne von Heinrich Pestalozzi sollen bei der täglichen Arbeit im Dorf die Themenfelder ganzheitlich erfahrbar gemacht werden. Daher werden in den Austauschprojekten vor Ort jeweils speziell ausgebildete Pädagoginnen und Pädagogen eingesetzt, die mit den kulturgemischten Gruppen während einer Woche arbeiten.
Vor ungefähr einem Jahr habe ich bei der Schulleitung angefragt, ob es möglich wäre, mit einer Gruppe des Gymnasiums Muttenz eine Austauschwoche im Programm des interkulturellen Jugendaustauschs im Pestalozzidorf durchzuführen. Ich kenne das Projekt schon länger und war im Vorfeld schon mehrmals persönlich im Pestalozzidorf zu Besuch. Die Wahlfachwoche 2019 vor den Sommerferien hat sich als geeigneter Zeitpunkt erwiesen. Wir haben uns aus Gründen der Planungssicherheit dafür entschieden, mit einer einzelnen Schulklasse ein erstes Austauschprojekt im Sinne eines Pilotprojektes durchzuführen.
So kam es, dass die damalige Klasse F1b (Fachmittelschule Pädagogik), deren Klassenlehrer ich bin, für das erste Projekt ausgewählt wurde. Für künftige Primarlehrpersonen spielt das Thema Interkulturalität eine grosse Rolle, werden sie doch später tagtäglich bei der Arbeit damit konfrontiert sein. Besonders wichtig dabei ist ein möglichst wertungs- und vor allem vorurteilsfreier Umgang. Hier bietet eine internationale Austauschwoche ein ideales Übungsfeld für die Jugendlichen. Die Teilnahme an einem solchen Projekt in Trogen schien mir daher für meine Klasse besonders geeignet.
Wie viele andere Klassen der FMS war und ist auch die F1b eine sehr bunt gemischte Gruppe. Nicht weniger als sechs Schülerinnen und Schüler haben die Klasse nach dem ersten Schuljahr aus verschiedenen Gründen wieder verlassen. Die internationale Austauschwoche fiel gerade in die letzte Woche vor diesem grossen Wechsel im Klassenverband. Zusätzlich konnten noch einige Schülerinnen und Schüler am Projekt teilnehmen, die eigentlich erst nach den Sommerferien in die Klasse eintreten sollten. Es zeigte sich bald, dass die Heterogenität der Gruppe auf die Interaktion mit den Klassen aus Montenegro – am Projekt nahmen ebenfalls 40 Jugendliche von dort teil – einen recht grossen Einfluss haben sollte. Einige nahmen sofort Kontakt auf und zeigten reges Interesse an den Partnerklassen, andere wiederum fühlten sich durch die Begegnungen bedrängt und verhielten sich dadurch vermehrt passiv. Die Pädagoginnen des Dorfes haben mir im Vorfeld erzählt, dass sich das Verhalten einzelner Schülerinnen und Schüler in ihren Wochen oft nicht unbedingt mit der schulischen Leistungsbereitschaft decke. In der F1b zeigten jedoch vor allem diejenigen Schülerinnen und Schüler Initiative, die ich auch im Unterricht als aktiv wahrnehme, während die anderen in den Plenumsdiskussionen zurückhaltend blieben. Über diese Zurückhaltung zeigten sich die Jugendlichen aus Montenegro, die über ein Bewerbungsverfahren ausgewählt worden waren, überrascht und erhöhten gleichzeitig ihre Aktivität in vielen Situationen noch zusätzlich.
Ich fand es sehr spannend, mich mit den Jugendlichen aus Montenegro über verschiedene Themen wie Vorurteile und Diskriminierung zu unterhalten. Es war interessant zu sehen, was für Erfahrungen die Montenegriner damit gemacht hatten im Vergleich zu uns. Wir haben uns ausgetauscht und festgestellt, dass wir manches sehr ähnlich oder gleich erleben, dass es jedoch auch Unterschiede gibt. Ajla, F2b
So waren in dieser Woche vor den Sommerferien nicht nur die Temperaturen im idyllisch gelegenen Pastalozzidorf in Trogen heiss, auch in den Workshops zu «Diskriminierung» und «Konfliktbewältigung» ging es teils hitzig zu und her. Die Jugendlichen aus Muttenz und Montenegro wurden gleichmässig auf die beiden Kurse verteilt.
Besonders beeindruckend war eine Sequenz zu Vorurteilen. Den Schüler*innen wurden A3-Blätter mit Titeln wie «Black/Brown Person», «Person in a Wheelchair», «Gay Man», «Person with Down Syndrome», «Woman» etc. auf den Rücken geklebt. Sie repräsentierten nun quasi die bezeichnete Bevölkerungsgruppe. Während die Schüler*innen im Raum zirkulierten, notierten sie die in ihrer Kultur resp. Gesellschaft herrschenden Vorurteile der bezeichneten Bevölkerungsgruppe gegenüber auf die Blätter. Dabei verstörten insbesondere die Montenegriner mit ihrer schonungslosen Ehrlichkeit und Aussagen wie «thieves, criminals, slave, danger, can’t do anything, helpless, weak, lazy, doesn’t deserve to live, unnormal, disgusting, dirty, sick, useless, ugly…», wobei nicht bei allen klar ersichtlich war, ob sie diese bloss im Sinne der Übung ausformulierten oder als wirkliche Haltung empfanden. Die allgemeine Betroffenheit war besonders greifbar, als die «Repräsentant*innen» in der Mitte des Kreises Platz nehmen mussten und nun direkt und persönlich von der Kursleiterin mit diesen Vorurteilen konfrontiert wurden. Was Diskriminierung ist, wie sie entsteht und welche Auswirkungen sie haben kann, das war Thema der folgenden Sequenzen. Dieser Tag ist wohl an keinem der Beteiligten spurlos vorbeigegangen und hat sie sicherlich nicht nur für die Anliegen anderer sensibilisiert, sondern auch zu einem reflektierteren Umgang mit den Mitmenschen geführt.
Ähnlich ging es in der Konfliktgruppe vor sich. Es waren vor allem die Jugendlichen aus Montenegro, die Konflikte vehement negierten oder bei Gruppenübungen ihre Position bis aufs Schärfste verteidigten, während die Jugendlichen der F1b beobachtend und eher lösungsorientiert agierten. Es war für mich als Klassenlehrperson spannend, die Interaktionen der Jugendlichen in den Kursen von aussen so zu beobachten.
Mir ist bewusst geworden, dass man nicht weit reisen muss, um festzustellen, mit welchen Problemen und Herausforderungen viele Länder zu kämpfen haben. Es ist nicht selbstverständlich, dass wir in so einem guten, geregelten, reichen und gesegneten Land wie der Schweiz leben können. Die Jugendlichen aus Montenegro wünschen sich nichts mehr als das, was wir schon längst haben. Ich habe gelernt, alles zu schätzen, auch wenn es nur Kleinigkeiten sind. Milena, F2b
Die Woche im Pestalozzidorf war für alle recht herausfordernd, dennoch sind die zurückgebliebenen Effekte insgesamt doch erstaunlich. Die Klasse wurde in ihrem Zusammenhalt gestärkt und nahm nach den Ferien den Unterricht an einem ganz anderen Punkt wieder auf. Die eigene Rolle in Bezug auf Konfliktbewältigung und Diskriminierung wird seit dem Austauschprojekt von den Schülerinnen und Schülern sicher differenzierter wahrgenommen. Erfreulicherweise getrauen sich mittlerweile auch bisher zurückhaltende Schülerinnen und Schüler, im Klassengespräch vermehrt eine eigene Position zu vertreten. Gleichzeitig haben wir gelernt, mit Wertungen sorgfältig und offen umzugehen. Eine Entwicklung, die ich jeder Klasse wünschen kann. Es freut mich daher ausserordentlich, dass auch im nächsten Sommer wieder zwei Klassen unserer Schule an einem Austauschprojekt im Pestalozzidorf in Trogen teilnehmen werden. Das Pilotprojekt der F1b wird also weitere Früchte tragen.
Hier berichtet die Klasse selber:
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