von Mirjam Braun (Text und Bilder)
Am 18. Juni war es endlich soweit, das neue Prunkstück der norwegischen Kulturlandschaft konnte eröffnet werden: die neue Hauptstelle „Deichman Bjørvika“ der Stadtbibliothek Oslo. Somit erhält auch das letzte der skandinavischen Länder eine Vorzeigebibliothek und es zeigt sich einmal mehr, warum uns der Norden in Sachen Literatur und Medienverständnis weit voraus ist.
Den Beginn dieser Entwicklung läutete Dänemark bereits in den 1980er Jahren ein. Neubauten mit viel Glas und einem vielbesuchten Standort im Stadtzentrum entstaubten das Bibliothekswesen. Bücher rücken in den Hintergrund, die Services in den Vordergrund. Die Aalborg Public Library war eine der ersten Bibliotheken, die in eine neue Richtung dachte und unter anderem die „(fast) bücherfreie Kinderbibliothek“ gestaltete, womit sie bereits im vergangenen Jahrtausend auf die neuen Mediengewohnheiten von Kindern und Jugendlichen einging.
Däninnen und Dänen sind pragmatisch, technikaffin und zukunftsorientiert. So musste beispielsweise bereits 2001 jede öffentliche Organisation digital erreichbar sein. Inzwischen können (und werden) sämtliche Geschäfte wie An- und Abmeldungen oder Passanträge effizient und kostensparend online erledigt werden. In diese „digital by default“-Strategie wurden auch die Bibliotheken intensiv miteinbezogen. Seit 2012 gibt es zudem das „model programme for public libraries“, initiiert von der „Agentur für Kultur und Paläste“ (klingt gut, oder?). Das Programm bietet einen Katalog an Inspirationen und Werkzeugen, wie die Öffentlichkeit in die Neu- oder Umgestaltung von Bibliotheken miteinbezogen werden kann. Und das tun die Nordländer!
Einen Höhepunkt bildete 2015 die Eröffnung von „Dokk1“ in Aarhus. Direkt am Hafen, umrundet von Rampen und Treppen, ist sie die grösste öffentliche Bibliothek Skandinaviens und trotzdem eigentlich etwas ganz anderes. Ein „community center“ mit Reparatur-Café, maker spaces, einem Kinosaal, einem riesigen Veranstaltungsangebot, einer Aussenstelle der Bürgerservices und viele offene Flächen, welche von Gruppen für eigene Aktivitäten zusammengestellt und gemietet werden können… im Dokk1 geht es um Menschen, ihre Interessen und Fähigkeiten. Bezeichnenderweise hängt im oberen Stockwerk ein Gong. Er schlägt, sobald im Universitätsspital der Stadt ein Kind geboren wird. Der neue Erdbewohner wird somit schon kurz nach seiner Ankunft in der Bibliothek willkommen geheissen.
Einmal über die Nordsee und wir landen in Schweden. Stockholms Stadtbibliothek ist zwar nicht neu (1928 erbaut) beeindruckt aber Bibliothekare und Instagrammer gleichermassen. Mit über 2 Millionen Medien (davon 177 Tageszeitungen in verschiedensten Sprachen) war sie damals die erste Bibliothek Schwedens mit einer Freihandaufstellung, man benötigte also nicht mehr die Hilfe von Bibliothekaren, um an seine Bücher zu gelangen. Hauptmerkmal ist allerdings die Rotunde, die geradeso nur nach likes schreit.
Weiter geht’s durch die Ostsee nach Helsinki, oder Mekka, wie wir Bibliothekare sagen. Rund 40 öffentliche Bibliotheken gibt es in der Stadt, eine schöner als die andere und viele mit einzigartigen Angeboten (zum Beispiel Wanderstöcke zum Ausleihen oder Bibliothekshunde zur Leseförderung, aawww) und das alles auch noch kostenlos.
Die finnische Nationalbibliothek, in der Mitte des 19. Jahrhunderts errichtet, ist mit einem Kuppelsaal nach römischem Tempel-Vorbild und einem sechs-stöckigen Anbau mit Glasdach eines der schönsten Gebäude der Stadt. Die Hauptbibliothek der Universität, Kaisa House, hat sich gleich nach ihrer Eröffnung 2012 einen Platz in den internationalen Architekturführern gesichert. Modern und lichtdurchflutet mit idealen Lernbedingungen für Studierende ist Kaisa-talo perfekt für die lernbegeisterten Finnen.
Doch kommen wir nun zum eigentlichen Highlight: Oodi! Die im Dezember 2018 eröffnete Zentralbibliothek war ein Geschenk Helsinkis an sich selbst. Den (anonymen!) Architekturwettbewerb einige Jahr zuvor gewann ein Team finnischer Architekten und die Einwohner der Stadt wurden aktiv in die Planung miteinbezogen (über 2300 «Träume» wurden eingereicht) und auch der Name selbst («oodi» bedeutet Ode) war ein Vorschlag aus der Bevölkerung.
Oodi verkörpert eine neue Ära des Bibliothekswesens, in Finnland und der Welt. Das Land hat bereits seit 1928 ein Bibliotheksgesetz, welches die Gemeinden zu einem aktuellen Medienangebot und qualifizierten Mitarbeitenden verpflichtet. 2017 wurde dem Gesetz hinzugefügt, dass Bibliotheken aktiv zur Förderung des lebenslangen Lernens, einer engagierten Zivilgesellschaft, der Demokratie und Meinungsfreiheit beitragen sollen. Oodi hat dies voll und ganz erfüllt: die Bibliothek wiederspiegelt alles, wofür Finnland steht und ist eine Ort von allen für alle.
Im Erdgeschoss befinden sich die Informationstheken verschiedener Bürgerservices (z.B. auch ein Servicepoint für EU-Informationen), ein flexibles Auditorium, ein Kino, eine Küche für Kochkurse und ein Café. Über eine Wendeltreppe gelangt man in das zweite Stockwerk. Dieses widmet sich ganz dem Lernen und der Interaktion: verschiedenste Gruppenarbeitsräume, Gaming-Zonen, ein Tonstudio, Nähmaschinen, 3D-Drucker, ausleihbare iPads, High-Tech wohin man blickt. Zuletzt erreicht man das dritte Stockwerk, den Bücherhimmel. Hier befinden sich 100’000 Medien, es ist hell und luftig und die echten Bäume sind ein weitere Hingucker. Kinder toben in Socken durch den Spielebereich und rutschen zwischen Studenten mit Laptops die Holzrampe hinab, auf der anderen Seite des Gebäudes entspannen sich die Älteren beim Zeitungslesen. Auch hier gibt es nochmal ein Café und wer will trinkt seinen Tee auf der Dachterrasse, mit herrlichem Blick über das Kulturviertel. (Wir wären dann jetzt übrigens bereit zum Auswandern.)
Und nun hat also auch Oslo eine solche Bibliothek der Superlative. Das Gebäude befindet sich auch hier am Hafen, gegenüber der neuen Oper und dem noch neueren Munch-Museum. Auf sechs Etagen befinden sich 450’000 Medien und doch stehen sie nicht im Mittelpunkt. Die komplett verglasten Wände sowie drei Lichtschächte lassen viel Helligkeit in das Gebäude. Das Mobiliar ist eher dunkel gehalten, doch die Bücher und vielen Nischen und Leselounges bringen Farbe ins Spiel. Die Wirkung ist gleichzeitig beruhigend als auch aktivierend. Die Bibliothek will aktiven Kultur- und Wissensaustausch fördern und Medienzentrum und Wohnzimmer für alle Generationen sein. Natürlich gibt es auch hier die schon standardmässigen Nähmaschinen und 3D-Drucker, ein Tonstudio, Musikinstrumente zum Ausleihen und ein Minikino.
Ein spezielles Projekt ist die «future library»: 2014 wurden ausserhalb Oslos 1’000 Fichten gepflanzt. Gleichzeitig schreibt jedes Jahr ein/e herausragende/r Autor/Autorin der Zeit einen Text. Diese Texte werden 100 Jahre lang in einem Raum ganz oben in der Bibliothek unter Verschluss gehalten und dann im Jahr 2114 gedruckt, auf das Papier entstanden aus dem Fichtenwald. Einen Text beigetragen haben bisher unter anderem die Kanadierin Margaret Atwood und der Isländer Sjón.
In fast allen skandinavischen Bibliotheken gilt neben «open space» inzwischen auch «open library», das heisst, die Bibliothek soll so lange wie möglich für die Nutzer geöffnet sein (Oodi liegt beispielsweise bei 90 Stunden pro Woche), das Ziel ist 24/7, ohne Bibliothekspersonal zu Randstunden. Und was für uns noch nach Zukunft klingt ist in den nordischen Bibliotheken längst Realität.
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