It’s a Jump to the Left

Meine 3WZ und ich sitzen im Theater 11 in Zürich, das Licht geht aus, eine Darstellerin singt den ersten Song. Es ertönt begeisterter Applaus. Im nächsten Moment betritt die Erzählerin die Bühne. Ich blicke stolz auf meine 19-köpfige Klasse, als sie mit vereinten Kräften und unerbittlich die Erzählerin ausbuhen. Moment mal, ausbuhen? Und die Lehrerin ist auch noch stolz darauf? Was geht denn hier ab? Ist es das, was junge Menschen heute in der Schule lernen?
Von Karolina Kowalska aka Ms K

Stellen wir die Zeituhr anderthalb Wochen zurück: Ich freue mich auf die nächste Englischlektion, denn ich darf eine Einführung in das Musical The Rocky Horror Picture Show, von Richard O’Brian, geben. Ich beginne mit dem 90-sekündigen Filmtrailer. Danach schaue ich die Klasse an und gucke in erstaunte, schockierte, verwirrte und belustigte Gesichter. Der Klasse dämmert es langsam, dass die Rocky Horror Picture Show (RHPS) definitiv kein gewöhnliches Musical ist.

Die Handlung des Musicals basiert lose auf Mary Shelleys Frankenstein, und dreht sich um das gutbürgerliche, frisch verlobte 50er-Jahre-Pärchen Brad und Janet, das auf der Autofahrt zu Dr. Scott (huh!) im Regen mitten im Nirgendwo stecken bleibt. Im Regen laufen sie zu einem grossen Anwesen und werden von einem skurrilen Butler eingelassen. Die äusserst bizarren Bewohner des Anwesens betrachten das Pärchen als Kuriosität und halten es vom Hilfe versprechenden Telefon fern. Der Master des Hauses erscheint, Frankenfurter, ein «sweet Transvestite, from transsexual Transylvania» und erschafft vor allen Anwesenden einen muskulösen Adonis (mit dem Verstand eines 8-Jährigen), namens Rocky, und heiratet ihn gleich selber. In derselben Nacht verführt Frankenfurter zuerst Janet, dann Brad und auch Rocky kann sich der sexuell geladenen, betrügenden und betrogenen Janet nicht entziehen. Dr. Scott (huh!) erscheint plötzlich auf dem Anwesen und hilft, das Durcheinander zu vervollständigen. Dem Butler und seiner Schwester geht das bunte Treiben nun doch zu weit. Sie outen die Bewohner des Hauses als Aliens und verlassen – das Haus ist ein Raumschiff! – nach weiteren Gräueltaten die Erde und lassen das verstörte Erdenpärchen zurück. Macht nicht viel Sinn? Richtig. Soll es auch nicht, denn die Handlung ist eine belustigende Hommage an die billigen B-, C-, und D-Horrorfilme der 30er bis 50er Jahre.

Die schräge Story ist aber nicht der Grund, warum dieses Musical mittlerweile als Kultmusical gefeiert wird und ich mit meiner 3WZ nach Zürich fahre. Das Musical ist einzigartig in der Geschichte des Musicals, denn es fordert Interaktivität vom Publikum. Das Publikum muss zu gewissen Zeiten gewisse Aktionen ausüben und Dinge schreien. Gewisse Schauspieler, besonders der Erzähler/die Erzählerin, dürfen ihre Schlagfertigkeit spielen lassen. Ich gebe meiner Klasse eine Liste von Gegenständen, die sie ans Musical mitnehmen müssen: Zeitung, Wasserpistole, Licht, Gummihandschuhe, eine «Rätschi», Toilettenpapier, Spielkarten und genug Konfetti. Die Schüler:innen schauen mich etwas ungläubig an. Ich erkläre, welche Gegenstände wann im Musical benutzt werden müssen. Dann folgt die schüchterne Frage einer Schülerin: «Ms K, you mentioned something about dressing up…?» Als Antwort präsentiere ich Bilder aus dem Internet, die Fans in den verschiedensten Kostümierungen zeigen. Ich erkläre: Anzüge, Strapsen und hohe Hacken (auch für Männer), Glitzer, Federn, Neon, schräge Brillen und Hüte und grosszügige Schminke sind gefordert. Gleich nach der Lektion höre ich die Schüler:innen planen: «Chan ich zu dir cho und denn ziemr is zämme um? Ich wött so nid elai vo mir dehei an Bahnhof laufe.»

Am Mittwoch, 6. April, versammelt sich die Klasse vor dem Englischlehrerzimmer: Ich habe 10kg Konfetti besorgt und die Schüler:innen bedienen sich grosszügig, damit sie für später gewappnet sind. Meine überschüssigen Wasserpistolen verteile ich unter die Klasse. Die Schultoiletten sind des Toilettenpapiers wegen geplündert worden und die Klasse scheint gerüstet. Eine halbe Stunde später sitzen wir im Zug nach Zürich: 20 Leute in Strümpfen, Strapsen, kurzen Röcken, Hüten, Federboas, Glitzerjäckchen und Krawatten sitzen im Zug. Die anderen Passagiere beäugen uns misstrauisch. Die schmink-Erfahreneren kümmern sich während der Fahrt um die Jungs, die sich ebenfalls etwas Farbe ins Gesicht zaubern lassen. In Zürich Oerlikon angekommen laufen wir direkt zum Theater 11. Noch vor dem Theater, als wir gerade für ein Klassenfoto posieren, werden wir vom Social Media Team des SRF abgefangen. «Oh wow, ihr seht super aus! Seid ihr Fans? Darf ich ein Foto von euch machen?». Wir sind ein grosser Hit, was uns die Tatsache, dass sich in der Schweiz leider eher wenig Leute für die RHPS verkleiden, praktisch vergessen lässt. Im Theatersaal beziehen wir unsere Plätze in den hinteren Reihen. Hinter uns sitzt eine Klasse, die offensichtlich nicht instruiert wurde und wir gucken sie etwas mitleidig an. Alle bereiten die nötigen Gegenstände vor; es gibt kaum noch Platz für die Beine zwischen den Reihen. Es wird dunkel, die Show beginnt. Nach dem ersten Buhen folgt der (erste) Konfettiregen; mit Wasserpistolen wird der solidarische Regen nachgestellt und brav halten meine Schüler Zeitungen über den Kopf, um sich vor dem Regen zu schützen. Weiter geht es mit unermüdlichem Buhen, Gummihandschuh-Schnalzen-Lassen und Riesenlärm, als alle Zuschauer eine Rätschikakophonie beginnen. Aber damit hat es sich noch lange nicht. Einer der Höhepunkte der Show ist der «Time Warp», der die Tanzinstruktionen fürs Publikum gleich im Liedtext beinhaltet:

It’s a jump to the left
And a step to the right
With your hands on your hips
You bring your knees in tight
But it’s the pelvic thrust
That really drives you insane
Let’s do the Time Warp again
Let’s do the Time Warp again

Trotz Platzmangel in den Reihen tanzen, singen und lachen wir mit.

In der Pause stellt die Klasse fest, dass es auch Vorteile gibt, als Gruppe verkleidet an die RHPS zu kommen. Während einzelne Schüler:innengruppen für Fotos posieren, stellen sich fremde Zuschauer neben mich, um ebenfalls von der fantastischen Truppe Fotos zu machen. Wir sind eine Attraktion.

Nach der Vorstellung frage ich meine Klasse, wie sie die RHPS erlebt haben. «Crazy!» ist die Antwort, die ich am meisten zu hören bekomme. Alle sind sich einig: Dieses Erlebnis, eben halt einen «jump to the left» vom traditionellen Theaterbesuch entfernt, ist ein Erlebnis, das sie nicht missen wollen würden.