Der grosse Moment

Nervenkitzel. Ich sehe nur Rot und Schwarz. Die Zeit tickt schneller als sonst, und gleichzeitig zieht sie sich unerträglich in die Länge. Wir stehen aufgereiht im Probesaal und warten auf unseren Einsatz. Herr Huldi teilt uns die letzten, wichtigen Informationen mit und wir hören zu, ungeduldig. Ein halbes Jahr haben wir auf diesen Abend hingearbeitet, auf dieses Konzert. Nun steht der Moment kurz bevor und wir können es kaum abwarten.
Von Gisele Plavsic (Foto: Nu)

Vor dem Antreten im Konzertsaal müssen wir uns jedoch zuerst mit meditativen Atemübungen, dirigiert von Frau Germann, beschäftigen. Das langsame Inhalieren, Innehalten und bewusste Ausatmen soll ein Versuch sein, unseren Plappereien und dem nervösen Geflüster endlich ein Ende zu setzen. Ob es wohl klappen könnte? Bei mir leider nicht, denn sobald ich meine Gedanken zu ordnen versuche und mein Körper sich entspannen will, stürmt ein Mitarbeitender des Stadtcasinos herein. Wir sollen uns schleunigst in den Konzertsaal begeben.

Zügig stellen wir uns auf, runter die Treppen, legen zum Schluss noch einen kleinen Sprint ein und wagen den Schritt auf die Bühne. So viele Menschen verteilt auf ihren Plätzen. Alle Sitze belegt, so scheint es. Die Lichter leuchten warm auf unsere Köpfe. Wir suchen nach bekannten Gesichtern, doch es fällt enorm schwer, sich mit den Augen in der riesigen Menschenmasse zu orientieren. Hie und da erkenne ich jemanden. Automatisch stellt sich bei mir ein Lächeln ein. Meine Freude kann sich gar nicht im Zaum halten. Ich freue mich, dass meine Familie hier ist und meine Freund*innen mir beim Singen zuhören. Begeistert habe ich daheim erzählt von diesem Projekt, von diesem Auftritt. Und nun ist es so weit. Wir dürfen endlich die Melodien und Wörter singen, die uns ganze Tage und Wochen verfolgt haben. Wir stehen endlich auf der Bühne, allesamt, mit Orchester, Solist*innen und dem Dirigenten und dürfen uns die Seele aus dem Leib singen.

Die Lautstärke des Publikums verebbt, unser Fokus setzt ein. Den Dirigenten Leonardo Sini im Blick, warten wir auf das Zeichen, lossingen zu dürfen, oder besser gesagt, loszuflüstern. Das Orchester stimmt ein. Feine, süsse Klänge… Requiem. Requiem Aeternam. Stille. Die Emotionen übernehmen und das Gefühl, die Musik im ganzen Körper zu spüren. Ich schwebe in Gedanken, singe jedes Wort aus meinem Herzen. Der Sound gewinnt immer mehr an Intensität. Wir werden immer lauter, bis die Ohren platzen und der Bass in der Brust zu spüren ist. Erschreckend, aber höllisch gut. Die Pauken und Trompeten, die Violinen, alle Instrumente im Einklang mit unseren Stimmen. Wir schweben über die Zeilen, blättern von Seite zu Seite. Es ist laut, und dann wieder leise. Ich kann mich entspannen, spüre meine Füsse in den hohen Schuhen. Doch das stört mich nicht. Mein Herz tanzt im Rhythmus der Musik mit. Ich höre den Solist*innen voller Bewunderung zu, starre in dem Saal umher, beobachte die Zuschauer*innen, ihre Gesichter, ihre Mienen. Gefällt ihnen unser Stück bisher wohl? Ich hoffe es. Der beste Teil kommt erst noch. Wie sehr auch ich den Gesang der Soli geniessen mag, so kann ich es kaum abwarten, selbst wieder zum Einsatz zu kommen. Ich bereite mich vor, setze mich aufrecht hin.

Mit voller Wucht reissen uns die Trompeten des Sanctus mit, wir hochkonzentriert, startbereit. Nun vergeht die Zeit in Sekunden, der Chor in schnellem Takt, synchron. Hoch und runter, langsam und schnell. Die Seiten werden weniger und weniger, es wird leiser und leiser. Libera Me. Unser letzter Satz. Libera Me. Befreiung. Ich fühle mich befreit. Ich fühle, wie sich die friedliche Stimmung im Saal verbreitet. Wie ein sanfter Nebel, der uns berauscht. Wir stehen still, alle Münder leer, doch die Augen glitzernd. Und dann wie ein Donner in einem schleichenden Sturm kracht der Applaus auf uns ein. Ich bin überwältigt. Endlich vorbei, leider vorbei. Jubeln aus dem Publikum. Es mischen sich Gefühle des Stolzes und der Erleichterung mit denen des Abschieds und der Wehmut. Die Menschen applaudieren noch kräftiger. Ich in meinen Gedanken, emotional. Ich bin glücklich und traurig. Dieses Kapitel nimmt nun ein Ende. Verdi. Ich werde mich immer zurückerinnern an diesen Moment und bin sehr dankbar, diese Chance gehabt zu haben.


Nicht nur unsere Autorin ist begeistert von diesem grossen Moment, auch der Kritiker des Opernmagazins hat die Vorstellung offensichtlich genossen. Ein Klick auf das Bild führt zu seiner Rezension.