Hingubank. Ds Frouegfängnis.

«Im Gfängnis isch me nume e Zahu. Um jede Pris söu me glich sie wie die angere.» Mit diesen Worten stimmte uns Leona Steiner, die Laienschauspielerin und Studentin der Universität Fribourg, auf die Mittagsveranstaltung ein. Anschliessend versetzte sich ihre Schwester, Nora Steiner, in die Rolle einer Gefangenen von Hindelbank. Begriffe wie Zwangssterilisation, Nacherziehung und Entlastung der Armenfürsorge liessen das Publikum aufhorchen. Gebannt blieben die Blicke der Zuhörer:innen auf Nora Steiner haften, die soeben ihre Inszenierung beendet hatte. Wurden die Frauen in den Schweizer Strafanstalten vor gerade mal 50 Jahren tatsächlich so menschenrechtswidrig behandelt? Was haben wohl die drei Schlagworte auf sich? Von Sophie Kessler und Ruby Haschke (Fotos: Nu)

Viel Zeit zum Rätseln blieb uns nicht. Nora, die Regisseurin und Dramaturgin der freien Szene Bern, ergriff das Wort und forderte uns auf, das Foto einer jungen Frau in schäbiger roter Anstaltsuniform in kleinen Gruppen zu interpretieren. Im Nu wurde die anfängliche Stille durch leises Stimmengewirr der Schüler:innen gebrochen. Das Bild gab zu reden. Alle versuchten herauszufinden, wieso diese Frau sich mit vereinten Kräften aus dem leeren Poolbecken zu ziehen versuchte und was sich hinter ihrem starren Blick verbarg.  Wenig später ermutigte uns Nora mit ihrer fröhlichen, offenen Art: «Es wäre jetzt an der Zeit, euere Gedanken im Plenum zu teilen.»  Das Interesse am Gefängnis Hindelbank war gross. Nur selten getrauen sich so viele der Zuhörer:innen an einer Mittagsveranstaltung ihre Meinung zu äussern. Nach einem kurzen Brainstorming lauschten wir gespannt den historischen Fakten, die Nora vortrug. Ihr Stück «Hingubank. Ds Frouegfängnis.» basiert nämlich auf wahren Begebenheiten.

Seit 2008 läuft die Aufarbeitung von diesem dunkeln Kapitel der Schweizer Geschichte. Bis 1984 wurden 20’000-40’000 Frauen und Männer in der Schweiz administrativ versorgt, unteranderem im Gefängnis Hindelbank. Das bedeutet, dass sie auf unbestimmte Zeit, ohne Gerichtsentscheid, in die Erziehungsanstalt gesperrt wurden. Anlass zur Festnahme waren Armut, alkoholabhängige Eltern sowie uneheliche Schwangerschaften. Letzteres führte oftmals zur Zwangssterilisierung, damit, so dachte man damals, diese schlechten Gene nicht vererbt werden konnten. Die Inhaftierung der Armen wurde mit der Behauptung «Arme schmarotzen von der Armenvorsorge und fallen den Staatsfinanzen nur ins Gewicht» gerechtfertigt.  Durch deren Einweisung in die Anstalt wurde das Budget deutlich weniger stark belastet. Die Sittenpolizei war dafür verantwortlich, alle Personen, die eine «Gefahr» für die damalige gesellschaftliche Ordnung darstellten, einzusammeln und ins Gefängnis zu stecken.

Schreckliche Haftbedingungen

Bei der Registrierung in Hindelbank wurde den Frauen alle persönlichen Gegenstände eingezogen und sie wurden ihrem Namen enteignet. Anstelle dessen erhielten sie eine Nummer. Das Tragen einer Uniform, einem ärmlichen roten Kleid mit Leinenhemd und weisse Strümpfe, war Pflicht. Obwohl Hindelbank keine Mauern besass gelang die Flucht selten, denn es herrschte die totale Kontrolle. Die «Häftlinge» wurden stets von Diakonissen, sogenannten Aufseherinnen, begleitet. Der Alltag der Insassinnen war bis auf die letzte Minute durchgeplant. Täglich mussten sie für mindestens acht Stunden stillschweigend Arbeit in der Wäscherei, der Landwirtschaft oder der Gärtnerei verrichten, ohne dafür entlöhnt zu werden. Mehr als 30 Minuten Rede- oder Gemeinschaftszeit pro Tag wurde ihnen nicht erlaubt. Den Wärter:innen war es frei gestattet, den Inhaftierten diese bei unangebrachtem Verhalten zu streichen. Punkt zwanzig Uhr wurden die Frauen für die Nachtruhe in ihre Zellen gesperrt. Befolgten sie die strikten Anweisungen des Aufsichtspersonals nicht und rebellierten, so mussten sie zur Strafe ins Gajot, eine kalte, abgedunkelte Einzelzelle im Keller.

Zahlreiche Rechte der Insassinnen wurden systematisch verletzt, ohne dass die es sich bewusst waren. Neben physischer und psychischer Gewalt, deckte der Gefängnisdirektor Meyer auch sexuellen Missbrauch. Herr Meyer, war die oberste Behörde der Besserungsanstalt. In den Insassinnen sah er, als Mann seiner Zeit, zu erziehenden Töchter.

Grauenvolle Haftbedingungen herrschten in Hindelbank. Nora beteuert, dass das Gefängnis auch im internationalen Vergleich zu den schrecklichsten dieser Zeit gehörte. Des Weiteren wies sie uns darauf hin, dass die administrative Versorgung auch heutzutage noch in der Schweiz existiert, jedoch wurden einige Gesetze erlassen, sodass für die Inhaftierung ein Gerichtsentscheid vorliegen muss und die Haftbedingungen gemässigter ausfallen.

Viele harte Fakten, die wir zuerst einmal setzen lassen mussten. Das Publikum war immer noch mucksmäuschenstill, vermutlich erschüttert von der traurigen, unvertrauten Wahrheit des Frauengefängnisses in Bern. Doch viel Zeit blieb uns nicht um die schockierenden Begebenheiten zu verarbeiten. Nora fuhr gleich darauf mit einem Videoausschnitt aus ihrem Theaterstück fort. Er handelte vom Suizid der Insassin Anna-Marie, die nach einer unehelichen Schwangerschaft zwangssterilisiert wurde. Das karge, kalte Bühnenbild verstärkte die bedrückte Stimmung des Publikums umso mehr. Weisse Tuchbahnen, die im Neonlicht bläulich schimmerten, bildeten die Zellen der fünf Insassinnen. Nachdem Anna-Marie sich das Leben nahm, kann sie als Einzige ihre Zelle verlassen. Die zarte, melancholische Melodie des Guggisbergerlieds wird von einer der vier verbleibenden Insassinnen angestimmt. Trotz des strikten Redeverbots stimmen die anderen mit ein, um dem Tod ihrer Kollegin zu gedenken.

Nora schilderte, dass im Bühnenstück Schweizer Mundartlieder bewusst in einen anderen Kontext gesetzt wurden, um die Vorstellung der heilen Welt zu durchbrechen. Die Biographien der fünf Insassinnen, die Nora ins Theaterstück integrierte, sind fiktiv. «So hatte ich mehr Freiheit aus den Verbrechen Hindelbanks eine Geschichte zu flechten», begründete die Dramaturgin ihren Entscheid. Als Nora uns die Bedeutung der Kostüme und des Bühnenbildes darlegte, ging ein Raunen durch die Reihen. Wir waren fasziniert von der durchdachten Kulisse.

Später wagte die Regisseurin nochmals einen Sprung zurück zu den historischen Ereignissen Hindelbanks. Sie erzählte uns die tragische Lebensgeschichte von der Asthmatikerin Rasmieh Hussein. Ein Wärter verabreichte ihr ohne vorgängige Untersuchung des Arztes einen lytischen Cocktail gegen die Panikattacken, die sie aufgrund der klaustrophobischen Gefängniszelle erlitt. Die sedative Wirkung des Cocktails legte ihre Atemwege still. Qualvoll erstickte Rasmieh Hussein in ihrer Zelle. Rettung war keine in Sicht, denn die Gefangenen konnten sich lediglich über Klopfzeichen bemerkbar machen.

Kampf für Gerechtigkeit

Mit kleinen Aktionen des «Widerstandes» begannen sich die Insassinnen nach dem tragischen Todesfall ihrer Kollegin gegen die miserablen Umstände zu wehren. Nora erklärte begeistert, wie sich die Frauen ihre Selbstbestimmung zurück erkämpften. Dass es sich dabei wortwörtlich um einen Kampf gehandelt hatte, erlebten wir kurz darauf in einem weiteren Ausschnitt ihres Theaterstückes. «Wenn chann i gah?» sind die Worte von Vreni, einer verzweifelten Inhaftierten, die endlich erfahren möchte, wann ihre Haft in Hindelbank endet. Kreischend kämpfte Vreni gegen den Wachmann auf der Bühne an. Immer wieder schreit sie «Wenn chann i gah?». Uns wurde es richtig mulmig zumute. Nora schilderte, dass dieser Moment des Widerstandes zu den wichtigsten ihres Stückes gehört.

Gleich darauf zeigte sie uns ein weiteres Video der Theateraufführung im Tojo-Theater Bern. Auf der Bühne sitzen die fünf Insassinnen in ihren abgeschotteten Zellen. Während einer fünf Minuten Pause rollen sie Zigaretten aus Bibelpapier. Verwirrte Gesichter aus dem Publikum blickten Nora entgegen, als die Aufnahme verstummte. Mit einem verschmitzten Lächeln meinte die Regisseurin: «Das dünne Papier der heiligen Schrift hatte sich damals am besten für die Zigaretten geeignet. Diese symbolische Szene soll aufzeigen, dass die Frauen die strikten Regeln der Bibel förmlich «geraucht» haben.»

Später, so fuhr Nora mit der historischen Geschichte Hindelbanks fort, schlossen sich die Insassinnen zu einem Kollektiv zusammen. Sie kämpften gegen die Missstände und die Hierarchie im Gefängnis an. Der Höhepunkt wurde erreicht, als 66 gefangene Frauen einen Brief an den Bundesrat unterschrieben. Obwohl die Post der Häftlinge kontrolliert wurde, gelangte dieser Brief an die Öffentlichkeit. Er fand ordentlich Anklang bei der Presse und die Frauen blieben nicht ungehört. Doch ihre Situation änderte sich nicht von heute auf morgen. Schrittweise wurden Gesetze erlassen, welche die administrative Versorgung der 1970er Jahre verbot. Allerdings wird das dunkle Kapitel unserer Landesgeschichte auch heutzutage noch gerne verschwiegen.

Nichtsdestotrotz verlassen wir die Mittagsveranstaltung mit hoffnungsvollen Gesichtern, denn die Frauen in Hindelbank haben Veränderung gebracht und wir werden ihren Kampf für Gerechtigkeit nicht vergessen.