Von Liebhabern getragen

von Timo Kröner und Daniel Nussbaumer

Franco Supino empfängt uns an der pädagogischen Hochschule in Liestal. Er leitet dort unter anderem die Weiterbildung „Kulturvermittlung an Schulen“. Gleichzeitig kennt er Kulturvermittlung auch als Autor mehrerer Romane.

Was für Kultur lässt sich an Schulen grundsätzlich vermitteln?

Grundsätzlich lässt sich jede Art von Kunst vermitteln. Es ist eher eine Frage der Vermittlung als eine Frage der Kunst, Kunst ist per se da und gute Kunstvermittler können alles vermitteln. Wir richten bei unserer CAS-Ausbildung unseren Fokus auf die Gegenwartskunst aus, die erfahrungsgemäss ein bisschen schwieriger zu vermitteln ist als ein Picasso oder van Gogh oder Klee. Wir stellen uns einfach vor, Klee ist jetzt als klassischer Künstler etabliert, und vor 30 Jahren war der auch schwierig zu vermitteln. Es geht also darum zu schauen: Was macht die Kunstproduktion, was machen alle Künste im Moment, was steckt dahinter, was will der jetzige Künstler in seinen Ausdrucksformen repräsentieren? Sich damit auseinanderzusetzen lohnt sich für alle: für Schüler, Lehrer und das Publikum.

Um bei den Schülern zu bleiben: Was ist Ihrer Ansicht nach der pädagogische Wert von Kultur an Schulen?

Ein Merkmal von Kunst ist ja, dass sie wert- und zweckfrei ist. Man weiss eigentlich nicht, wozu sie gut ist und wozu man sich mit ihr beschäftigen soll. Und das macht den Reiz aus. Wir haben ja im Leben und in der Pädagogik gemerkt: Wüssten wir im Leben immer, was wir in zehn Jahren brauchen, hätten wir es viel einfacher. Also lohnt es sich, sich mit etwas auseinanderzusetzen, das gar nicht auf einen bestimmten Zweck ausgerichtet ist. Und gerade diese Auseinandersetzung, dass man Weltgestaltung nicht in Hinblick darauf macht, was es für ein Gewinn für den Einzelnen bringen das kann – diese Auseinandersetzung macht den pädagogischen Wert aus. Was wollen die Kunstschaffenden? Warum machen sie das so? Der Künstler, die Künstlerin, die machen einfach. Die Kunst ist es, die richtigen Fragen zu stellen an den Künstler und sein Kunstwerk wie an die Schüler, die sich fragen: Was soll das?

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Franco Supino öffnet an der PH in Liestal das Fenster für die Kulturvermittlung (Foto: Nu)

Inwiefern ist Kulturvermittlung speziell an Gymnasien wichtig?

Ich meine, Kunst ist eigentlich anders als alle andern Fächer am Gymnasium. Wer genau versteht die Relativitätstheorie und wird die wirklich vermittelt? Es geht bei Kunst vielmehr um Avantgarde: Was machen die führenden Köpfe jetzt in einem bestimmten Bereich? Was machen die Gegenwartsmusiker? Was machen die Künstler? Wo stehen die jetzt mit ihren Fragen?

Und das zu verstehen heisst auch immer, einen Blick in die Zukunft zu werfen. Denn die beschäftigen sich mit hochaktuellen Fragen in der Kunst, die auch immer hochaktuelle Fragen in der Gesellschaft sind – und diese Fragen sind oft noch nicht im Schulalltag angekommen. Wie gesagt, in meiner Schulzeit hat der Physikunterricht kurz nach Newton aufgehört. Manchmal ist man in der Kunst viel weiter, denn da sagt man: Wir beschäftigen uns da immerhin mit Künstlern, die in den 60er-Jahren noch aktiv waren. Macht man das z. B. im Mathematikunterricht Theorien aus den 60er Jahren? Meistens ist der Stoff in den klassischen Schulfächern doch viel älter.

Bei der Kunst ist der Vorteil, dass sie greifbar ist. Man liest jetzt einen modernen Roman. Dass der nicht so leicht zugänglich ist, ist wenig erstaunlich. Ein gegenwärtiges Physikproblem ist auch nicht so zugänglich. Die Schule leidet auch darunter, dass alles kanonisiert sein muss. Es muss bekannt sein, von allen getragen werden – also bleiben wir doch bei Goethe und dem „Erlkönig“. Dagegen hat niemand was. Und wenn man schaut: Moderne Lyrik versteht kaum einer. Wer kann denn das beurteilen? Aber machen kann man das – muss man sogar!

Wie sollte Kultur speziell am Gymnasium vermittelt werden?

Es gibt ja immer den Gegenstand, das Werk. Und dann gibt es das Publikum, das wir ja in der Schule auch haben, unsere Schülerinnen und Schüler. Und zwischen beidem, Werk und Publikum, müssen wir einen Dialog finden. Wir müssen uns immer fragen: Was wollen wir eigentlich? Dass sich aus der Rezeption eine Partizipation entwickelt? Kann es sogar in eine bescheidene Reflexion oder gar Produktion übergehen? Da gibt es verschiedene Möglichkeiten: Man muss nicht immer zu jedem neuen Film eine Filmkritik schreiben – aber man kann mal. Vermittlung heisst immer, diese Begegnung und diesen Dialog zu fördern: zwischen der Institution, den Schülern, dem Publikum auf der einen und dem Werk, dem Zyklus, dem Festival auf der anderen Seite. Natürlich machen wir das schon immer, wir waren schon immer Kulturvermittelnde. In jedem Dorf war immer der Lehrer zuständig für Kunst und Kultur, weil er es eben gewohnt ist, da zu vermitteln.

Gibt es für die Kulturvermittlung besondere didaktische Konzepte, um diesen Dialog gerade bei eher konsumorientierten Jugendlichen zu bewirken?

Sie sprechen etwas sehr Wichtiges an: Ich glaube, man darf Didaktik nicht mit Verführung verwechseln. Wir können niemandem etwas verkaufen, das er nicht will. Wir müssen davon ausgehen, dass sich die Jugendlichen für irgendetwas interessieren. Und wenn sie sich für nichts interessieren, ist es nicht unser Problem. Sonst bin ich ja ein Wirt, der für Leute kocht, die satt sind. Also dieses Interesse an Kunst setzen wir voraus. Aber Sie haben recht, es ist auch wie mit dem Essen, es kommt nicht immer im richtigen Moment.

Und was in der Schule ja auch oft ist: Oft wird auf Lebenserfahrung zurückgegriffen, die die Schüler gar nicht anspricht, die auf sie gar nicht zutrifft. Ich sage meinen Studenten dann immer: Ihr seid Pelzmantelverkäufer im Sommer. Aber irgendwann kommt der Winter, dann sind die Schüler froh, dass sie sich mit Kunst beschäftigt haben. Wenn man davon ausgeht, dass man ihnen nichts aufdrängen muss, gibt es sicher Formen, bei denen man sagen kann, das ist geglückt, das ist angemessen.

Die Herausforderung ist nicht unbedingt das Publikum, das kennt man ja. Die entscheidende Herausforderung ist, wie ich das Kunstwerk rüberbringe, wie ich das verpacke oder knacke, wie ich dazu Zugänge schaffe. Denn je besser ich das Kunstwerk durchdringe, verstehe, je mehr ich auch davon begeistert bin, desto eher kann ich da auch einen Weg bahnen.

Was macht Kulturvermittlung gut und nachhaltig?

Da sind wir beim Selbstverständnis von Kunst. Kunst vermittelt durch ihre Ästhetik, durch ihren Charakter, ihre Poetizität etwas aus sich heraus, das ist die Aura von Kunst. Das ist vorhanden, darauf bauen wir, dieser Funke kann springen. In der Schule ist die Adaptation die wichtige Kategorie. Jetzt im Sommer beschäftigt z. B. der Tod in einem Kunstwerk einen Schüler weit weniger als mich mit meinen grauen Haaren. Da muss man schauen: Wie schaffe ich den Zugang dazu? Das ist eine legitime Forderung, Adaptation als didaktische Herausforderung, ohne das Kunstwerk zu banalisieren. Das muss man bewahren und auch vermitteln können, diese Aura des Kunstwerkes. Die Franzosen sagen dazu das „Je ne sais quoi“, Schiller: „Das Kunstwerk muss ein Geheimnis haben.“ Das Vieldeutige des Kunstwerkes, diese Ambiguität ist die Herausforderung, das, was wir auf die Lernenden übertragen müssen.

Was braucht eine Schule respektive ein Gymnasium, um gut und nachhaltig Kultur zu vermitteln?

Natürlich braucht es Geld, Räume, all das. Aber in erster Linie braucht es eine Tradition, dass man es macht wie das Zähneputzen. Da muss man sich nicht jeden Morgen überlegen, ob das jetzt sinnvoll ist oder was wir dafür brauchen. Bei vielen Kulturveranstaltungen kommen die Leute gar nicht mal wegen dem Kunstwerk, sondern weil man Kultur einfach braucht, man geht, weil man es so gewohnt ist, dass man am Dienstag über Mittag geht. Es braucht nicht den grossen Event am Wochenende, wie das heute ja oft der Fall ist. Es ist am besten, wenn Kultur in den Alltag integriert ist.

Das ist die Kunstvermittlung, die am besten funktioniert, weil man Kultur so als Gemeinschaft erlebt. Wir gehen, weil die anderen auch gehen. Ich gebe am liebsten Lesungen auf dem Land, denn da kommen die Leute, weil sie es gewohnt sind zu gehen, die kommen einfach. Und sie kommen auch, wenn es mal nicht so gut war. Diese lebendige Auseinandersetzung, das ist bürgerliches Kulturverständnis wie mit den Stadttheatern, woran die Sozietät dann teilnimmt. Das ist die beste und wirksamste Art der Kulturvermittlung. Man kann nicht warten, bis z. B. die Filme „besser“ werden. Die Filme sind schon gut genug. Man muss einfach einen guten Ort finden, der personell und ressourcenmässig gut ausgestattet ist.

Bei uns an der FH gibt es sogenannte Kulturfenster über Mittag. Nicht abends, abends kommen die Studenten nicht extra, das funktioniert nicht. Schule ist ja ein Arbeitsverhältnis, das ist wie in Firmen: Kultur sollte dann in den Alltag eingebunden sein. Die machen das auch über Mittag. Kunstlunch zu Beispiel, eine kleine Führung über Mittag.

Von welcher Sparte der Kultur wünschen Sie sich, dass sie an Schulen mehr vermittelt wird?

Bei Literatur ist es ja so, dass sie per se im Unterricht behandelt wird. Aber irgendwann hört es dann auf, so bei Frisch, Dürenmatt, Kurzgeschichten. Man denkt ja immer: Literatur wird immer gemacht – bis auf Gegenwartsliteratur. Das ist ja sehr lehrerabhängig. Die auf Nummer sicher gehen, die sagen: Hesse – das war doch schon früher gut, und meine Unterrichtsvorbereitungen funktionieren ja auch noch immer. Und bei Musik ist das ähnlich, Gegenwartsmusik hat einen schweren Stand. Die Sacher-Stiftung in Basel fördert das, aber wirklich ein Publikum findet das nicht. Das wäre eine grosse Herausforderung. Und dann kommt natürlich: Warum macht man nicht mehr Tanz? Und Film: Natürlich gibt es Medienerziehung, aber anspruchsvolle Filme in der Schule? Sagen wir mal so: Gegenwartskunst könnte schon mehr ein Thema sein. Es steht und fällt mit kundigen und engagierten Vermittlern. Und es ist natürlich schwieriger, etwas zu vermitteln, das noch nicht etabliert ist. Und man muss natürlich auch sagen: Man weiss nicht, ob sich die Sachen etablieren werden! Vielleicht finden die Leute manche Sachen in 100 Jahren totalen Schrott. Andererseits: Bach war ja auch jahrelang en vogue und dann Jahrzehnte lang vergessen.

In welchem Verhältnis stehen Kulturvermittlung und Begabungsförderung?

Ich war jahrelang in einer Jury, in der Jugendkulturpreise verteilt wurden. Und dann kamen vor allem Beiträge von Musikern, weil die ja als Fünfjährige anfangen und dann sehr lange üben können. Bei literarischen Begabungen denkt man immer, die lernen das Schreiben im Deutschunterricht. Jetzt gibt es in der Schweiz zum Glück diese Literaturinstitute, aber die Teilnehmenden dort sind eher älter. Und: Literarisch Begabte müssen ja auch nicht gleich Schriftsteller werden.

Bei Begabungsförderung geht es ja darum, dass man die Begabung fördert und nicht eine Berufsausbildung macht. Die wenigsten der geförderten Sport- und Musikschüler werden Fussballer oder Geiger, auch wenn man das gemeinhin annimmt. Das spielt auch keine Rolle. Es geht darum, dass Begabte ihrer Begabung nachgehen können. Das nützt, das gibt eine Arbeitsgrundhaltung, eine Fokussierung auf die eigenen Stärken, das ist der Sinn der Begabungsförderung. Man denkt auch immer, Begabung ist in den Menschen, und man muss sie nur entdecken. Aber Begabung findet man nur, wenn man sie aktiv sucht.

Wenn Sie sich anschauen: In der Toskana im 15. Jahrhundert ist dieses Genie-Konzept entwickelt worden. Es gab Geld von den Medici, und das hat ein Genie nach dem anderen hervorgebracht, Michelangelo, da Vinci. Und die Region lebt heute noch davon. Aber irgendwann waren die grossen Geldgeber bankrott und es kam kein einziges Genie mehr. Liegt denn das an der Begabung der einzelnen Figuren? Nein, das ist wie beim FC Basel. Vor 30 Jahren hätte man einen wie Shaqiri nicht gefunden. Heute sucht und fördert man gezielt die Leute. Genies, Begabte werden gesellschaftlich gemacht.

Was wäre Ihr Ideal oder Ihre Utopie für Kulturvermittlung an Schulen? Wohin müsste sich die Schullandschaft im Bildungsraum Nordwestschweiz entwickeln?

Ich sehe eigentlich keinen Notstand. Es hängt an den Menschen. Kulturvermittlung darf kein Amt sein, sie lebt von Liebhabern, die Kultur lieben. Und die sind so wichtig wie die Macher. Weil ohne Liebhaber gibt es keine Macher. Und die Liebhaber brauchen einen Raum, Gestaltungsmöglichkeit. Keine staatlich verordnete Kultur, sondern eine, die von Menschen getragen wird.