
von Brigitte Jäggi, Rektorin
Vor ungefähr 50 Jahren machte man sich erstmals Gedanken über das „lebenslange Lernen“. Hinter diesem Konzept stand ein bemerkenswerter Sachverhalt: Der Verlust der Lehrhoheit von Schule und Universität. Lernen ist nicht mehr auf eine bestimmte Lebensphase beschränkt und an eine bestimmte Institution gebunden. Ein Lehrabschluss, ein Uniabschluss, ja selbst eine Dissertation bilden nicht mehr den feierlichen Schlusspunkt des Lernens. Nach der formalen Bildung soll einen das Leben lehren. Das in den Schulen vermittelte Wissen, eingepackt in den metaphorischen Bildungsrucksack, reicht nicht für die erfolgreiche Bewältigung des Berufs- und Lebenswegs, wenn man ihn unterwegs nicht wieder mit Neuem auszurüsten versteht.
Lernen ist das Aufnehmen und Speichern von Erfahrungen. Denn nur wer nichts erfahren will, hat ausgelernt: Erfahrungsverweigerung als Lernverweigerung. Und auch aus schlechten Erfahrungen kann man seine Lehren ziehen, indem man sie nicht wiederholt. Und was bei anderen nicht geklappt hat, muss man selbst nicht auch noch probieren.
Erfahrende bleiben wir ein Leben lang. Und daher sind wir in vielen Alltagssituationen mehr Lernende, als uns bewusst ist. Insofern ist die Forderung des „lebenslangen Lernens“ nicht wirklich eine Bedrohung für Schule, Universität und Berufsleben, sondern sie ist mehr eine Frage des Bewusstseins: Lernen ist überall.
Lernen findet in der Schule statt, wo gelehrt wird; Lernen passiert aber auch im Supermarkt, wo einen die Schlange an der Kasse Geduld lehrt. Oder man zieht aus dieser Erfahrung seine Schlüsse und bringt sich den Self-Checkout bei. Lernen ist, wie man den Tankdeckel an seinem Mietauto in Italien öffnet, am besten an einer unbedienten Tankstelle und unter Zeitdruck. Glück hat man, wenn jemand vorbeikommt, der die Situation nonverbal erfasst und einem beibringt, dass Tankdeckel „tappo di serbatoio“ heisst. So hat man auch gleich einen hilfsbereiten Menschen kennengelernt.
Beschränkt man das Lernen nicht auf eine Lehrstätte, sondern versteht man es als Bereitschaft, sich im Lebenslabor immer wieder zurechtzufinden, so bleiben wir tatsächlich ein Leben lang Lernende.
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