Beim Lernen Freude haben

Das Thema dieser Entfalter-Ausgabe ist „Lernen“. Der Neurobiologe Manfred Spitzer ist ein ausgewiesener Experte auf dem Gebiet der Lernforschung. Viele seiner Thesen, sei es zum Lernen aus neurobiologischer Sicht, zu Stress oder zur „Digitalen Demenz“, haben wir im Kollegium intensiv und kontrovers diskutiert.

Interview: Daniel Nussbaumer, Timo Kröner; Foto: zur Verfügung gestellt

Manfred Spitzer (Foto ZVG)
Manfred Spitzer (Foto ZVG)

An welches Lernerlebnis aus Ihrer eigenen Schulzeit erinnern Sie sich am besten? Und wie beurteilen Sie es heute?

Davon gibt es sehr viele! Was ich dazu sagen kann, ist ganz einfach: Ich hatte Lehrer, die mich für die Welt und (in höheren Klassen) für ihr Fach begeisterten. Wenn das funktioniert, braucht man sich um das Lernen nicht zu sorgen.

Wir bereiten unsere Schülerinnen und Schüler auf die Universität und das Berufsleben vor. Wie und in welchem Mass sollen wir Computer und ICT im Unterricht einsetzen?

Man ist auf die Universität und den Beruf gut vorbereitet, wenn man eine gute Allgemeinbildung hat und sich in vielen Bereichen Grundlagen erarbeitet hat. Wer einmal begriffen hat, wie Logarithmen funktionieren, was ein pH-Wert ist, wie Sprache funktioniert oder welche Probleme es bei der Verteilung und Kontrolle von politischer Macht geben kann, dem wird so leicht keiner irgendwelchen Unsinn erzählen können.

Suchmaschinen kann man umso besser verwenden, je mehr man weiss! Wer nichts weiss, dem nutzen sie auch nichts. Was ein junger Mensch heute über Informationstechnik wissen muss, eignet er sich nicht in der Schule an – selbst dann nicht, wenn es dort entsprechenden Unterricht gibt, wie Studien herausgefunden haben –, sondern durch den vielfältigen Umgang damit, den er sowieso hat.

Sie betonen die Wichtigkeit von Neugier und positiven Emotionen beim Lernen. Wie können unsere Schülerinnen und Schüler Lernerlebnisse mit positiven Emotionen koppeln?

Es geht nicht darum, das Lernen mit irgendetwas zu „koppeln“. Es geht vielmehr darum, beim Lernen Freude zu haben. Lernen Sie beispielsweise Französisch, dann hilft ein Freund oder eine Freundin aus Frankreich sehr! Lernt man Chemie, dann hilft es sehr, wenn man an Beispielen erfährt, was das Ganze soll und wozu es gut ist! Wer begriffen hat, dass ein grosser Teil der Menschheit ohne das Haber-Bosch-Verfahren zur Herstellung von Ammoniak als Ausgangspunkt für die Produktion von Nitrat und damit von Dünger verhungern würde, wird wissen wollen, wie das funktioniert!

Wie können wir als Lehrpersonen Lernarrangements schaffen, damit Motivation und Freude entstehen?

Wissen ist grundsätzlich immer vernetzt und anwendungsrelevant. Daraus folgt, wie man Inhalte strukturiert, wie man sie mit Erfahrungen verknüpft und wie man Vorwissen nutzt. Patentrezepte oder gar Tricks gibt es keine. Wer aber sich und seine Schüler langweilt, macht es sicher falsch.

Wie gelingt selbstorganisiertes Lernen an der Schule?

Wie gerade gesagt. Aber machen wir uns nichts vor: Selbstorganisiertes Lernen braucht sehr viel Zeit und ist daher nur begrenzt effektiv. Ein guter Frontalunterricht hingegen kann sehr viel bewirken. Wir alle erinnern uns noch an die eine oder andere Schulstunde oder Vorlesung, weil da ein charismatischer Lehrer begeisternd über spannende Sachverhalte gesprochen hat.

Die Universitäten und der Arbeitsmarkt generieren Leistungs- und Selektionsdruck und damit die Angst, dem nicht standzuhalten. Wie können die Schülerinnen und Schüler darauf reagieren? Und wie können wir sie darauf vorbereiten?

Angst ist ein schlechter Lehrmeister und auch Ratgeber. In geringen Mengen kann sie vielleicht anspornen, aber wirklich nur in sehr geringen Mengen. Wer etwas kann, braucht keine Angst zu haben. Jeder Chef sucht schlaue, fleissige und nette Leute als Mitarbeiter, und wer diese drei Qualitäten aufweist, braucht sich überhaupt keine Sorgen zu machen!

Wie viel Freiheit brauchen Lehrpersonen, um guten Unterricht zu machen?

Sehr viel! Wer nur abspult, was irgendwo steht, kann gar keinen guten Unterricht machen.

Wenn Sie eine ideale Schule (auf Sekundarstufe II) gestalten dürften: Welche Bedeutung und welchen Anteil hätten aus Ihrer Sicht handwerkliche Fächer, musische Fächer und Bewegungsfächer?

Musik und Sport könnten Teil der täglichen Routine sein, wobei es schon genügte, wenn die Schüler zu Fuss oder mit dem Fahrrad zur Schule kämen. Wenn das nicht der Fall ist, muss körperliche Bewegung in der Schule erfolgen, weil dadurch die Aufmerksamkeit, Konzentration und damit das Lernen gesteigert werden.

Und wer schon einmal erlebt hat, wie auflockernd und befreiend das Singen sein kann, der wird es sehr schätzen, wenn z. B. nach der grossen Pause zehn Minuten gesungen würde. Aber bitte Lieder, die die Schüler gerne singen. Da gibt es sehr viel aus anderen Ländern und Kulturen, was ein begeisternder Musiklehrer den jungen Leuten nahebringen kann. Und es macht allen einen grossen Spass!

Es ist schade, dass man an manchen Gymnasien der Meinung ist, dass handwerkliche Tätigkeiten nicht zur Bildung gehören! Wer schon einmal gesehen hat, zu welchen Höchstleistungen Schüler fähig sind, wenn man sie diesbezüglich einmal fordert, der wird verstehen, warum die Anwendung von Wissen in der wirklichen Welt ein ganz wesentlicher Teil von Lernen ist.

Vita

Herr Prof. Dr. Dr. Manfred Spitzer studierte in Freiburg Medizin, Psychologie und Philosophie. Nach seiner Promotion in Medizin und Philosophie und seiner Habilitation für das Fach Psychiatrie war er als Oberarzt an der psychiatrischen Universitätsklinik Heidelberg tätig.

Drei Forschungsaufenthalte in den USA an der Harvard University und der University of Oregon prägten das weitere wissenschaftliche Werk von Manfred Spitzer an der Schnittstelle von Neurobiologie, Psychologie und Psychiatrie. Seit 1997 ist Manfred Spitzer Ärztlicher Direktor der Psychiatrischen Universitätsklinik in Ulm. 2004 gründete er das Transferzentrum für Neurowissenschaften und Lernen (ZNL), das im Bildungsbereich sowohl Grundlagenforschung betreibt als auch Bildungseinrichtungen evaluiert und sie bei der Weiterentwicklung ihrer pädagogischen Arbeit begleitet. Manfred Spitzer ist Autor zahlreicher Bestseller.