Fünf persönliche Wünsche


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Abschlussrede von FMS-Leiter Jan Pagotto am 23. Juni 2016 in der alten Dorfturnhalle Pratteln

Liebe Absolventinnen und Absolventen der Fachmittelschule Muttenz

„Evolution“ haben Sie als Thema für Ihre Abschlussfeier gewählt und so möchte auch ich über Ihre Evolution sprechen. „Bliib so, wie de bisch“ – das mag wohl gut gemeint sein, aber wer kann das schon wirklich so meinen. Es wäre schlimm, sich nicht zu verändern, oder?

Versuchen Sie sich selbstkritisch an Ihren ersten Schultag an der FMS Muttenz zu erinnern: Sind Sie nicht auch mit grossen Augen als frischgebackene Erstklässlerinnen und Erstklässler in die Aula der FHNW gekommen und haben mit Respekt an die grosse, neue Schule gedacht, an der Sie die nächsten Jahre verbringen werden?

Plötzlich kamen nicht mehr alle ausschliesslich aus Frick, Muttenz, Möhlin, Birsfelden, Pratteln oder Rheinfelden und die Lehrer sagten „Sie“ zu Ihnen: „Sie, Lukas, wenn Sie nochmals zu spät kommen, gibts Arrest“ oder „Tamara, heissen Sie wirklich Geniale?“ Wenn wir die Fotos, die wir jeweils kurz nach Schuleintritt von Ihnen anfertigen, mit Ihrem jetzigen Aussehen vergleichen, dann drängen sich die Begriffe „Evolution“ und „Entwicklung“ geradezu auf. Damit meine ich nicht nur, dass Sie Ihre Haarfarbe wechselten, sich für eine neue Brille, Kappe oder andere Äusserlichkeiten entschieden, sondern den veränderten Ausdruck in Ihren Gesichtern. Es zeigt, dass Sie in diesen drei Jahren viel erlebt und sich verändert, eben entwickelt haben.

Sicher haben Sie Verständnis dafür, dass wir Lehrerinnen und Lehrer, Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter Ihre Veränderung, also Ihre Evolution, gerne der Schule und dem Unterricht zuschreiben. Sicher machen wir uns da etwas vor, da Sie mindestens so viel durch Ihre Eltern, Freunde oder einfach durch das Leben an sich gelernt und sich dadurch verändert haben. Hauptsache, diese Entwicklung war gut, und wenn ich nun in die Runde schaue, spricht alles dafür, denn Sie sind offenbar noch klüger, reifer, grösser, stärker und schöner geworden. Darum will ich nun nicht mehr zurückschauen und den Moment festhalten, als sei ich Ihr Grossvater.

Lassen Sie mich in die Zukunft schauen und fünf persönliche Wünsche aussprechen, was ich mir unter Evolution vorstelle. Das Gute an den Wünschen ist ja, dass sie nicht wehtun und Sie damit machen können, was Sie wollen.

Mein erster Wunsch in Sachen Evolution lautet, dass Sie keine Rassisten werden: Rassisten gibt es bereits zu viele, es braucht keinen Nachwuchs und Rassismus ist eine Erscheinungsweise von Ignoranz und mangelndem Horizont. Sie alle haben hier an der FMS Menschen mit anderen kulturellen, ethnischen, religiösen und sozialen Hintergründen kennen und schätzen gelernt und dabei sicher gemerkt, dass die Hautfarbe nicht darüber entscheidet, ob ein Mensch gut oder schlecht ist.

Wir brauchen aufmerksame, kompetente Sozialarbeiterinnen, egal ob ihre Eltern in Albanien oder in Mumpf aufgewachsen sind, und wir wollen einfühlsame, kinderliebende Kindergärtner, egal ob der Vater aus Italien oder die Mutter aus Kamerun eingewandert ist. Sie müssen und dürfen auch in Zukunft mit anderen und  andersartigen Menschen zusammenarbeiten und auskommen und wenn Sie dabei Vorurteile und rassistisches Denken behindert, werden Sie sich Vieles verbauen und sich nicht weiterentwickeln.

Rassisten sind auf der Leiter der Evolution ganz unten geblieben: Sie denken im vereinfachten Schema von Fressen und Gefressenwerden. Über diese Stufe sind Sie sicher längst hinweg, auch dank des Unterrichts an unserer Schule, und werden nie mehr dahin zurückfallen – selbst wenn das Leben auch in Zukunft nicht immer leicht sein wird, geben Sie dafür nicht den Falschen die Schuld.

Mein zweiter Wunsch: Werden Sie keine Schwulen- oder Lesbenhasser! Auch davon gibt es leider zu viele und sie scheuen vor Gewalt nicht zurück, wie wir kürzlich wieder erfahren mussten. Auch jegliche Formen von Homophobie und Feindschaft gegenüber Bi-, Trans- oder Homosexuellen haben mit Dummheit und mangelndem Horizont zu tun – wie der Rassismus.

Gehen wir davon aus, dass niemand von Ihnen zwangsverheiratet wird, was leider nicht selbverständlich ist. Nehmen wir also an, dass Sie weitgehend frei sind, ob, mit wem und wie vielen Partnern Sie liebevollen Kontakt haben oder zusammenleben wollen. Warum sollte es Sie dann stören, wenn Ihr Krankenpfleger-Kollege lieber Männer als Frauen hat? Was macht es aus, ob Ihre Primarlehrer-Kollegin nach der Arbeit mit ihrem Partner oder ihrer Partnerin zu Abend isst? Hilft ein Sozialpädagoge besser oder schlechter, weil er schwul oder hetero ist? Oder gefällt ein bestimmtes Design, eine Graphik oder ein Kunstwerk anders, wenn Sie wissen, ob es von einer Transsexuellen, einem Hetero-Mann oder einer lesbischen Künstlerin gestaltet wurde?

Egal, welches Berufsfeld, ob Gesundheit, Pädagogik, Soziales oder Kunst: Wer Menschen mit anderer sexueller Orientierung anfeindet, sich distanziert und nicht mit ihnen zusammenarbeiten kann oder will, verbaut sich Chancen und wertvolle Freundschaften – und bleibt in der Entwicklung auf der Strecke, denn es geht nicht ums Fressen- und Gefressenwerden: Teamfähigkeit heisst auch, andere Menschen voll und ganz zu akzeptieren!

Dritter Wunsch: Werden Sie keine Intellektuellenhasser, sondern seien oder werden Sie Streberinnen und Streber im guten Sinne des Wortes. Machen Sie etwas aus Ihren guten Voraussetzungen und Kenntnissen. Handeln Sie nicht nur nach Instinkt, sondern nutzen Sie Ihre Entscheidungsspielräume und übernehmen Sie Verantwortung. Ob Sie Ihren Unterricht an der FMS nun gut oder schlecht fanden: Durch Ihre weltweit gesehen ausgezeichnete Ausbildung und als Menschen, die in einem der reichsten und schönsten Länder der Welt leben dürfen, sind Sie privilegiert und hatten nun schon relativ lange Zeit zum Lernen und Nachdenken. Sie haben Sprachen gelernt und sich in verschiedensten Bereichen weitergebildet. Machen Sie da weiter und entwickeln Sie sich! Lesen, schreiben, denken Sie, seien Sie kritisch und politisch und machen Sie sich nicht lustig über solche, die kritisch und politisch sind, denn das ist der schwierigere, aber spannendere und verantwortungsbewusstere Weg der Evolution.

Und viertens, werden Sie keine Religionsverächter. Warum Menschen auslachen und verspotten, weil diese sich zu einer Religion bekennen und an einen Gott oder Götter glauben? Genau so wie religiöser Fanatismus ist die Verachtung von religiösen Menschen eine Form von Ignoranz und Intoleranz. Es ist kein Zeichen von Fortschritt, wenn man Menschen verletzt oder beleidigt, weil sie an einen Gott glauben oder an Traditionen und Bräuchen festhalten.

Viele von Ihnen werden nun nach der Fachmittelschule mit der Fachmatur weitermachen und mehrwöchige Praktika absolvieren. Wenn Sie da z. B. in einem Krankenhaus tätig sind, müssen sie sich überlegen, ob und welcher Religion ein Patient oder eine Patientin angehört und welche Rolle dies spielen dürfte. Auch als Lehrer oder Kindergärtnerin ist wichtig, sich der religiösen Hintergründe der Kinder bewusst zu sein. Sie sollten wissen, was koscher bedeutet, was der Ramadan ist, aber auch, warum hier Pfingsten und Ostern als Feiertage gelten. So geht es besser, gemeinsam – Hand in Hand…

Mein fünfter und letzter Wunsch für heute: Werden Sie keine Egoisten. Davon gibt es leider auch zuviele und diese sind beschränkt – im wahrsten Sinne des Wortes – nämlich auf sich selber und ihre kleine Welt.

An der FMS haben Sie nun Tag für Tag mit Ihren Mitschülerinnen und Mitschülern, Lehrerinnen und Lehrern, den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern und sogar der Schulleitung irgendwie auskommen müssen. Manchmal haben Sie es genossen, manchmal war es ein Zwang und vielleicht sogar eine Qual, aber sicher hat Sie dies weiter gebracht. Niemand entwickelt sich nur aus sich alleine heraus. Auch eine falsche Antwort einer Mitschülerin, eine vermeintlich dumme Frage des Banknachbarn, eine unvollständige Erklärung der Lehrerin und vielleicht sogar eine viel zu lange Rede des Schulleiters können Sie weiter bringen, anregen und zur Auseinandersetzung veranlassen.

Helfen Sie sich gegenseitig, fordern Sie sich weiterhin heraus, arbeiten Sie zusammen für die Fachmatur und darüber hinaus. So werden Sie auf der Leiter der Evolution weitere erfolgreiche Schritte schaffen. Einen wichtigen haben Sie soeben erfolgreich bestanden – ich gratuliere Ihnen dazu ganz herzlich und wünsche Ihnen noch viele weitere Schritte!