
von Timo Kröner (Text und Bilder)
«Ich freue mich, endlich wieder in die Schule gehen zu dürfen!» Diesen Satz haben in den letzten Jahrzehnten vielleicht einige heimlich am Ende der Sommerferien gedacht, aber wahrscheinlich wurde er noch nie so oft auch ausgesprochen wie in den Maitagen des Jahres 2020. Darin artikuliert sich die Vorfreude auf eine Zustandsänderung. Dieser Gefühlsäusserung liegen Bedürfnisse zugrunde, die nach dem Lockdown wieder erfüllt werden sollen. Das wichtigste wird das Bedürfnis nach sozialem Austausch sein, nach den Freundinnen und Freunden und nach der Gemeinschaft in der Klasse. Möglicherweise drückt er auch das Bedürfnis aus, den Zwang zur Lernautonomie ein bisschen zu lockern und wieder Verantwortung für den eigenen Lernrhythmus an die Lehrpersonen zurückzugeben. Vielleicht ist es ja auch nur das Bedürfnis nach der Rückkehr zu einer klareren Trennung von Lernen und Freizeit.Wenn wir diesen kommunikativen Akt betrachten, dann fällt auf, dass es sich um eine klassische Ich-Botschaft handelt. Den Satz haben wir einem Lernenden in den Mund gelegt, denn die vermuteten Bedeutungen des Gedankens entspringen eher einer Schüler- denn einer Lehrersicht. Klar, wir Lehrpersonen freuen uns natürlich auch auf unsere Kolleginnen und Kollegen, doch wir würden als erstes an den gemeinsamen Kaffee im Lehrerzimmer oder an unsere Rolle als erwachsene Verantwortliche, die wieder in direkten Kontakt zu Menschen den Unterricht gestalten und erleben können, denken. Darüber, wie wir unsere Bedürfnisse bewerten, sagt die Wahl unserer Wörter recht viel. Das «dürfen» meint das bundesratliche Verbot des Unterrichts und die Verhaltensmassnahmen des Abstandnehmens. Dass wir von einem «Lockdown» sprechen, zeigt, dass unser Bedürfnis nach Autonomie der Alltagsgestaltung, freier Bewegung und dem Austausch mit Menschen eingeschränkt wurde. Wir haben uns eingesperrt gefühlt.
In dieser Krise hat sich aber eine andere Bedeutung in unsere Kommunikation gemischt. Es war eine Du-Botschaft. In der Kommunikation sind Du-Botschaften das Fegefeuer des Gesprächs, danach geht es direkt in die Hölle des Konflikts: «Du räumst nie dein Zimmer auf!» oder «Du kommst immer zu spät!» Dem anderen wird über diese unabänderlichen, ja ewigen Zeitadverbien «nie» und «immer» ein Verhalten zugesprochen, das wie ein Magnet anhaftet. Wie reagiert man darauf? Natürlich: mit Konfrontation, denn man möchte doch nicht so verurteilt werden! Das Urteil der Du-Botschaft verschärft individuelle Haltungen, dass man z. B. der Ordnung im Zimmer ein hohes Gewicht gibt, mit erstarrten Wahrnehmungen des anderen, dass die andere Person keine Strategien hat, diese Ordnung herzustellen, zu einem vernichtenden Urteil. Doch halt! Wir könnten es mit einer Ich-Botschaft versuchen: «Ich finde, du räumst dein Zimmer nie auf!» Das Urteil bleibt dasselbe, nur die Reaktion wäre eine andere: «Ich finde nicht!» Ich-Botschaft, trotzdem Streit.
Nun hat die Du-Botschaft in der Krise eine Aufwertung erfahren, und damit hat auch der und die andere eine Aufwertung erfahren, so wie sich die Schule gewandelt hat von einem Ort, an den man «muss», zu einem Ort, an den man nicht mehr «darf», also an den man «will». Und der «Lockdown» war ja nicht nur Verbot, er war auch Gebot, nämlich dass wir uns aufgrund des Wissens, das zu einem bestimmten Zeitpunkt als gesichert galt, durch bestimmte Haltungen und Verhaltensweisen schützten. Nein, dass wir uns UND die anderen dadurch schützten, dass wir auch an das «Du» dachten. Wir haben durch unser Verhalten nicht nur Mitmenschen geschützt, die anfälliger waren für eine Ansteckung, wir haben auch unsere Umwelt geschützt, indem weniger Flugzeuge geflogen, weniger Autos gefahren und weniger Kreuzfahrschiffe über die Meere gecruised sind. In unsere Handlungen eingeflossen ist eine Haltung der Wertschätzung des Anderen, die doch die enge Sphäre der Bedürfnisse unseres Ichs – so gerechtfertigt sie auch sind! – überstiegen hat. Das bedürftige Ich ist zu einem aktiven, einem aktiv beschützenden Ich geworden. Die Botschaft, die dahintersteckt, richtet sich an Vieles, sei es an die Grosseltern, für die man einkauft, an die alte Nachbarin, der man länger als drei Minuten zuhört, sei es an die vielen Vögel, deren Gesang man ohne die Geräuschkulisse von Auto- und Flugverkehr in ihrer ganzen Klangvielfalt vor dem Fenster hört, oder einfach an unser grosses Haus, die Erde, die vielleicht – im wahrsten Sinn des Wortes – ein bisschen aufatmen konnte in diesen Wochen. Wir haben in der Mehrzahl Mensch verantwortungsvoll an das Andere gedacht: «Du bist uns wichtig!»

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