Der Friedhof der ungelesenen Bücher

Text und Bilder: Yvonne Spaar

Den roten Aufkleber „Spiegel Bestseller“ werden die meisten von euch schon einmal gesehen haben. Er zeichnet diejenigen Bücher aus, die sich am meisten verkauft haben, ergo „Bestseller“ sind. Doch sagt euch der Ausdruck „Worstseller“ etwas? Wie sich vom Namen ableiten lässt, ist es das Gegenteil von einem gut verkauften Buch, ein Ladenhüter. Genauer beschreibt der Begriff Bücher, von denen während einer langen Umsatzzeit kaum oder nur ganz wenige Exemplare verkauft wurden. Witzigerweise ist das Wort „Worstseller“ eine deutsche Wortschöpfung und im englischen Sprachraum noch nicht weit verbreitet. Aber welche Bücher gehören zu den am schlechtesten verkauften aller Zeiten? Nur lauter unbekannte Titel oder doch auch Werke von bekannten und gefeierten Autor:innen?

Einen Platz unter den „Worstseller“ hat sich das Buch «De l’amour» («Über die Liebe») des französischen Schriftstellers Stendhal gesichert. Es wurde 1822 in einer Auflage von 1100 Exemplaren veröffentlicht. Nach unglaublichen 191 Jahren war dann die gesamte erste Auflage verkauft. Das bedeutet, dass im Schnitt alle fünf Monate ein Buch verkauft wurde, also nur zwei Exemplare pro Jahr. Zum Vergleich: «Harry Potter und der Stein der Weisen» von J.K. Rowling gehört zu den meistverkauften Büchern, und zwar mit mehr als 105 Millionen verkauften Exemplaren. In der deutschen Ausgabe belegte das Buch in den Jahren 2000 bis 2002 insgesamt 50 Wochen lang Platz eins der Spiegel-Bestsellerliste. Die deutsche Ausgabe hat sich seit Veröffentlichung im Jahr 1998 durchschnittlich 32’600-mal pro Monat verkauft.

Der Schweizer Verlage Diogenes veröffentlichte eine Liste mit seinen am wenigsten verkauften Büchern des Jahres 2005. Darunter finden sich mehrere bekannte Namen, so beispielsweise William Faulkner und sein Werk «Griff in den Staub», welches nur 36-mal verkauft wurde. Faulkner erhielt 1950 den Nobelpreis für Literatur und gilt als einer der bedeutendsten amerikanischen Autoren des 20. Jahrhunderts. George Orwells Buch «Im Inneren des Wals. Erzählungen und Essays» wurde nur achtmal verkauft. Im Gegensatz dazu sind seine beiden Romane «Farm der Tiere» und «1984» grosse literarische Erfolge. «Meistererzählungen» von Frank O’Connor belegt in der Liste den ersten Platz: nur drei Personen kauften sich 2005 das Buch.

Was hierbei aber nicht vergessen werden darf: eine Bestseller-Liste sagt nichts über die Qualität eines Werkes aus. Sie beschreibt lediglich, wie oft ein Buch über den Ladentisch ging. Ob es sich dabei um ein gutes oder schlechtes Werk handelt, bestimmen allein die Lesenden.

Darüber hinaus gibt es keine Garantie, dass ein gekauftes Buch dann auch gelesen wird. Der Stapel gekaufter, aber nicht gelesener Bücher wird in der Popkultur auch als pile of shame oder stack of shame bezeichnet. Der Ausdruck bezieht sich nicht nur auf Bücher spezifisch, sondern auf gekaufte, aber nicht konsumierte Medien generell, also beispielsweise Games, Brettspiele und Filme. Die Bücher sammeln sich über die Jahre an und viele haben im persönlichen Bücherregal auch ein extra Regalbrett nur für diese ungelesenen Werke, als Erinnerung und gleichzeitig Aufforderung sie endlich zu lesen. Im Japanischen gibt es sogar ein eigenes Wort dafür: tsundoku.

Zudem hat eine britische Umfrage zum Leseverhalten von 4000 befragten Personen herausgefunden, dass 55% der Leser:innen Bücher nur als Dekoration kaufen, um dann vor ihren Mitmenschen als intellektuell zu gelten; also ein Buch oder zwei Bücher von Leo Tolstoi hier und «Ulysses» von James Joyce da. Wenn ein Buch dann tatsächlich begonnen wird, heisst das aber noch lange nicht, dass es auch Ende gelesen wird. Laut der Umfrage ist bei den begonnen, aber abgebrochenen Romanen «Jesus von Texas» von DBC Pierre auf Platz eins: rund 35 Prozent der Befragten sind nicht bis zum Ende gekommen.

Im Jahr 2007 hat der französische Literaturprofessor Pierre Bayard das Buch «Wie man über Bücher spricht, die man nicht gelesen hat» veröffentlicht. Darin zeigt er, wie Menschen selbstbewusst über Bücher sprechen können, die sie gar nie gelesen haben. Und schafft somit Hilfestellungen für alle Nichtleser, damit sie sich, egal ob an der Uni oder in Gesellschaft, nicht blamieren, wenn sie über ungelesene Bücher sprechen.

Wie kommt es jedoch, dass viele als „grosse Klassiker“ bezeichnete Bücher zwar begonnen, aber nicht zu Ende gelesen werden? Die Journalistin Julia Stephan beschreibt es in ihrem Artikel folgendermassen:

„Es liegt auch an unserer Haltung: Wir kriechen vor ihnen im Staub. Mit so viel Hochachtung und dem Zwang, alles verstehen zu wollen, ist ein sinnliches Leseerlebnis kaum noch möglich.“

Wichtige Werke der Weltliteratur lösen in uns eine gewisse Erwartungshaltung aus. Lesende wollen und fühlen sich gezwungen, alles verstehen zu müssen. Wenn etwas nicht verstanden wird, befürchten die Leser:innen gleich, dass sie zu dumm für das Werk sind und seine Bedeutung nicht nachvollziehen können. Ein Beispiel für ein solches Werk ist «Die göttliche Komödie» von Dante Alighieri. Er schrieb sein Hauptwerk im Exil. Es ist voll von Anspielungen auf Orte und Personen sowie zeitgenössischen Ereignissen. Der Text ist ohne Texthilfen nur schwer zugänglich für die Lesenden, was der eigenen Motivation das Buch zu lesen keinen Gefallen tut.

Julia Stephan zählt folgende Werke zu den «Ungelesenen Klassikern»:

  • «Ulysses» von James Joyce
  • «Der Grüne Heinrich» von Gottfried Keller
  • «Der Mann ohne Eigenschaften» von Robert Musil
  • «Auf der Suche der verlorenen Zeit» von Marcel Proust
  • «Faust II» von Johann Wolfgang von Goethe
  • «Der Zauberberg» von Thomas Mann
  • «Hundert Jahre Einsamkeit» von Gabriel Garcia Marquez
  • «Die göttliche Komödie» von Dante Alighieri
  • «Das Kapital» von Karl Marx

Auch in der Bibliothek gibt es Ladenhüter; Medien, die noch kein einziges Mal ausgeliehen wurden. Damit diese Medien nicht vereinsamen, haben wir neu in der Mediothek das Fundbüro eingerichtet. In diesem Regal findet ihr alle Medien, welche die Mediothek noch nie verlassen haben. Kommt vorbei, leiht sie aus und entdeckt neue Schätze.

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