Aufklärung einmal queer

Am 25.11.2021 steht die LGBTQIA+-Expertin Anna Rosenwasser mit farbig schillernden Ohrringen, roten Lippen und blauen Haaren auf der Bühne in der Aula Polyfeld. Neben ihr in einem Sessel sitzt der Gymnasiast Josia Jourdan. Was die beiden gemeinsam haben, ist ihr Schreibtalent und ihre Liebe für die queere Community. Ihr Ziel heute Mittag: die Schüler*innen über den Regenbogen aufklären.

Von Elena Brodmeier (Fotos: Daniel Nussbaumer)

«Ich weiss, was „schwul“ und „lesbisch“ bedüted, aber was heisst „queer“?», erhebt sich eine Stimme. Das Publikum besteht aus über 160 Schüler*innen. Anna Rosenwasser lächelt und vergleicht den Begriff mit dem Überbegriff der Tiere. So wie die Tierwelt sei auch das Queersein: bunt und vielfältig. In den Regenbogenfarben spiegeln sich Non-Binäre, Homosexuelle, Bisexuelle, Transgender und noch so viele mehr, denn das Spektrum des Regenbogens lässt sich nicht einfangen und kategorisieren.

Zu Beginn der Mittagsveranstaltung mit Anna Rosenwasser sitzen sich Josia und Anna gegenüber. Sie ist feministische Autorin, ehemalige Geschäftsleiterin der Lesbenorganisation Schweiz, Vorbild für die queere Jugend des Landes und Influencerin mit mehr Follower*innen auf Instagram als die SVP. «Voll guet», sind die ersten Worte, die das Publikum von Anna hört. Damit pflichtet sie Josias Vorstellung ihrer Person bei. Sie steht auf, behebt die technischen Störungen ihres Mikrofons, tritt an den umfunktionierten Notenständer, der nun als Rednerpult dient, und verkündet, dass sie nun einige Texte vorlesen wird. Gespannt und still warten die Zuschauer*innen auf ihren ersten Text.

Das Wort „vorlesen“ ist jedoch irreführend, denn Rosenwasser verwandelt den Text in eine Geschichte, die sie nachspielt. Anna übernimmt die Rolle einer Primarlehrerin, die der Klasse verkünden soll, dass eines der Kinder ab jetzt als „sie“ und nicht mehr als „er“ wahrgenommen werden möchte. Vor der Reaktion der Klassenkamerad*innen fürchtet sich die Lehrerin. Auf das Outing reagiert ein Kind mit der Frage, ob dies ein Geburtstag sei und sie nun „Happy Birthday“ singen dürften. Voller Erleichterung feiert die Lehrerin nun mit der Klasse die Geburt einer neuen Identität.

Diese Erzählung habe Anna nicht nur ausgewählt, «weil sie meega herzig isch», aber vielmehr, weil sie zeige, dass Menschen nicht LGBTQIA+-feindlich geboren würden. Kinder hätten nämlich keine Vorurteile, sie würden ihnen anerzogen werden. Das Publikum ist still. Rosenwassers gesellschaftskritische und fordernde Worte scheinen die Zuschauer*innen zum Überlegen anzuregen.

Ein anderer Text, den das Publikum zu hören bekommt, heisst: «Mir ist ja egal, was ihr im Schlafzimmer macht.» Darin erläutert die Expertin, dass hinter dieser Aussage eine viel grössere Bedeutung steckt als bloss eine Vermittlung der anscheinend so grossen Akzeptanz. Sie weist darauf hin, dass sie als bisexuelle Frau, im Gegensatz zu Heterosexuellen, ständig auf ihr Sexleben angesprochen werde. Prägnant und explizit treffen ihre Worte auf das Publikum. Eine peinlich berührte Stimmung verbreitet sich in der Aula. Ausserdem beschränke sich ihre Beziehung mit einer Frau nicht nur auf das Schlafzimmer, sondern erstrecke sich auch auf die Strasse, wo sie als „Dreckslesbe“ beschimpft werde. Zeugnis dieser Beschränkung auf die Sexualität sei das Verbot der Heirat für alle nicht heterosexuellen Paare, das immer noch bis nächsten Sommer gilt.

Wer ist eigentlich diese Frau, die auf der Bühne, in den Medien und auf ihrem Instagram-Account so offen über ihre sexuelle Orientierung und ihre persönlichen Erfahrungen spricht?

Anna Rosenwasser wurde 1990 geboren und wuchs im Kanton Schaffhausen auf. Inzwischen wohnt sie zusammen mit ihrer Freundin in Zürich. Wegziehen will sie von da nie mehr, nur leider gebe es in Zürich zu wenig Katzen, berichtet sie in einem Interview mit einem Augenzwinkern. Ihre Liebe für die Katzen führt sie nicht nur auf deren knuddelige Erscheinung, sondern auch auf den Kosenamen „Büsi“ zurück. Denn dieser ist genderneutral und vermittelt die Zuneigung, die sie ihrer Community gegenüber verspürt. In Zürich studierte die Katzenliebhaberin Journalismus sowie Politikwissenschaften und war als freischaffende Journalistin tätig. Im Herbst 2017 übernahm sie den Posten der Geschäftsleiterin der Lesbenorganisation Schweiz, und zwar so erfolgreich, dass sie im Herbst 2018 für den LGBTQAI+-Award nominiert wurde. Damit sie sich intensiver auf eigene Projekte fokussieren konnte, gab sie schweren Herzens die Führung der Lesbenorganisation Schweiz im Frühling 2021 ab. Nun beschreibt sie ihre Arbeit auf ihrer Webseite so: «In Form von Texten, Auftritten und in den sozialen Medien sensibilisiere ich junge Menschen auf gesellschaftspolitische Themen. Zudem halte ich Inputs und Workshops zu Themen wie Auftrittskompetenz, Medienarbeit und Social-Media-Aktivismus. Ich schreibe vier regelmässige Kolumnen, und zwar für das Ostschweizer Kulturmagazin Saiten, das Stadtmagazin hellozurich, das queere Mannschaft-Magazin und die Schaffhauser Arbeiter*innenzeitung (das Sternli ist eine Improvisation meinerseits, die AZ-Redaktion gendert noch dürftig).»

«Muess me gendere? Das verwüestet doch d’Sproch…», ertönt es in der Diskussionsrunde aus dem Publikum. Anna übernimmt das Wort und erzählt von einer Studie, die aufzeige, dass das Gendern Mädchen dazu ermutige, Berufen nachzugehen, die bisher hauptsächlich von Männern dominiert würden. Ausserdem spiele es keine Rolle, dass die Sprache umständlicher werde. Diese müsse sich sowieso an die Veränderungen der Gesellschaft anpassen. Zuletzt argumentiert sie, dass die Anpassung der Sprache, im Vergleich zum Schaden, der entstände, wenn manche Personengruppen weiterhin ignoriert würden, das kleinere Übel sei.

Kritik an die Schule und Schüler*innen gibt es auch in der Mittagsveranstaltung. Josia erzählt, dass „schwul“ ein gängiges Schimpfwort am Gymnasium sei. Darum beschreibe er sich lieber als queer. Auch die Lehrpersonen würden noch mehr zur Sensibilisierung bezüglich Identitäten und Sexualitäten, die über die Norm herausragen, beitragen können. Anna erzählt, in ihrem Aufklärungsunterricht sei ihr lediglich beigebracht worden, wie man ein Kondom über einen Holzstab ziehe wie Sex sie nicht schwanger und nicht tot mache. Dabei fehle der Bezug auf Menschen, die sich nicht als cis-hetero beschreiben. Ausserdem bilde die Anziehung eine zentrale Thematik des Aufklärungsunterrichts, welche mit so viel Scham behaftet sei, dass sie gar nicht erst erwähnt werde, «debi isch Ahziehig so öppis Schöns!» Ungenaue Begriffe wie „ummemache“ und „öppis mitenander ha“ würden die Berührungsängste der deutschen Sprache veranschaulichen. Die Schüler*innen denken über ihre Worte nach und stellen fest, dass sie Recht hat und diese Ausdrücke tatsächlich einfach nur um den heissen Brei herumreden.

Zum Schluss fragt Josia Anna nach Schwerpunkten, auf die sie sich in nächster Zeit fokussieren will. Ihre Antwort folgt schnell: Sie möchte unbedingt einige Projekte zur Transgender Awareness in Angriff nehmen. Vor allem das Gesundheitssystem kümmere sich noch nicht genügend um Trans-Personen. So werden Menschen wie Anna Rosenwasser, Josia Jourdan und viele mehr auch in Zukunft für Gleichberechtigung und Sichtbarkeit der ganzen Farbenpracht des Regenbogens kämpfen.

Anna Rosenwasser im Originalton an unserer Mittagsveranstaltung. Klicken Sie auf das Bild, um das Video zu starten.

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