Die digitale Maturprüfung

Für zwei Klassen an unserer Schule haben die Abschlussprüfungen anders begonnen als für alle anderen. Die 4BZ und die 4WE sind unsere BYOD-Pilotklassen. Sie haben ihren Maturaufsatz im Fach Deutsch auf dem eigenen Laptop geschrieben bei freiem Internet-Zugang. Sind wir verrückt, dass wir das zulassen?
Von Daniel Nussbaumer (Text und Fotos)

​​​Dieser Beitrag ist ursprünglich unmittelbar nach der Durchführung der schriftlichen, digitalen Maturprüfung entstanden. Jetzt ist er aktualisiert worden und beinhaltet auch die Auswertung und weitere Erkenntnisse.

„Der Duden liegt hier. Es hat ihn aber niemand gebraucht!“, ruft mir die Deutschlehrerin Seraina Gartmann entgegen, als ich ins Foyer komme und sie frage, wie der Maturaufsatz in ihrer Klasse verlaufen sei. Am Gym Muttenz haben heute die Abschlussprüfungen von Gym und FMS begonnen. Gemäss der Tradition war im Fach Deutsch ein vierstündiger Aufsatz zu bewältigen, dessen Themen jedes Jahr in einem längeren fachschaftsinternen Prozess und mittels Beratung durch ein schulübergreifendes Gremium unter der Aufsicht eines ausserkantonalen Ressorleiters ausgearbeitet werden.

Tastatur statt Tinte

Zwei Gymnasialklassen haben dieses Jahr jedoch nicht traditionell gearbeitet und wie die anderen Tinte auf Papier vergossen. Sie haben vielmehr ihren Deutsch-Maturaufsatz auf ihren eigenen Geräten getippt im Programm „Word“ inklusive Rechtschreibehilfe. Denn es sind Pilotklassen des Systems BYOD („Bring your own device“), das bedeutet, die Schüler*innen arbeiten im Unterricht oft mit ihren eigenen Geräten statt auf Papier. So habe ich denn meine Deutschklasse, die 4WE, wie folgt um 8.00 Uhr begrüsst: „Liebe 4WE, es ist Zeit für berühmte letzte Worte. Zunächst ist das schlicht das Vorlesen des Paragrafen 16b, Absatz 1 des Prüfungsreglementes.“ Besagter Paragraf ist kein schöner Beginn eines Abschlussrituals, denn er belehrt die Prüflinge darüber, was geschieht, wenn es ihnen einfallen sollte zu betrügen. Aber was die Prüfung auf dem eigenen Gerät betrifft, sind wir damit auch gleich beim umstrittensten Diskussionsthema. Wie können wir sicherstellen, dass bei der Nutzung von eigenen Geräten nicht betrogen wird an der Prüfung?

Ein denkender Kopf, zwei schreibende Hände

Die Deutschlehrpersonen dieser beiden BYOD-Pilotklassen, also Seraina Gartmann und der Schreiber dieser Zeilen, waren sich mit Blick auf vier Jahre BYOD-Unterricht einig, dass eine Abschlussprüfung unter ähnlichen Bedingungen ablaufen sollte wie die vorher praktizierten Schriftlichen. Im Fach Deutsch sprechen wir hier von einem Aufsatz gemäss einem Thema aus einer gestellten Auswahl. Unsere Schüler*innen haben in vier Jahren Unterricht ihre Aufsätze auf den eigenen Geräten geschrieben und dabei auch freien Zugang zum Internet gehabt. Sie können recherchieren und wissen, dass sie Quellen angeben müssen. Schreiben findet heute generell kaum noch in einem unvernetzten Setting statt. Sprachliche Hilfen gehören ebenso dazu wie inhaltliche Recherche. Was die Rechtschreibehilfe in Word nicht schafft, schlagen wir auf duden.de nach. Dort ist der Stand aktueller und die Erklärungen sind ausführlicher als in der Buchausgabe. Der Online-Duden hat zudem bereits die gendergerechte Sprache eingeführt und ist der Druckausgabe somit um Längen voraus. Auch was den Inhalt betrifft, schreibt kaum jemand in Wissenschaft, Beruf oder Kultur ohne jeglichen Bezug zu fundierter Recherche oder referierten Meinungen. So war es unseren beiden Pilotklassen sowohl bei normalen Aufsätzen als auch jetzt an ihrem Maturaufsatz erlaubt, Recherchen durchzuführen, wenn Bedarf dazu bestand. Denn wir verlangen nicht, dass recherchiert wird. Wir erlauben es nur und beurteilen dann, wie gut Recherche-Ergebnisse verarbeitet und nachgewiesen werden. Nach wie vor sind wir jedoch der Ansicht, dass ein guter Aufsatz auch nur dem einen denkenden Kopf und den nun meist beiden schreibenden Händen entspringen kann. In einer speziell mitabgegebenen Redlichkeitserklärung bestätigten alle Maturand*innen mit ihrer Unterschrift, dass sie ihre Quellen korrekt angeben und ohne fremde Hilfe arbeiten würden. Um dies zu gewährleisten, beaufsichtigten während der gesamten Prüfung jeweils zwei Lehrpersonen die beiden Klassen. Zudem wurden die elektronisch eingereichten Texte, die wir jetzt für die Korrektur ausgedruckt haben, mittels spezifischer Software einer Plagiatsüberprüfung unterzogen. Es hat sich erwiesen, dass die Prüflinge redlich gearbeitet haben.

Und die Benotung?

Die digital geschriebenen Maturaufsätze sind korrigiert und bewertet. Zu den Notenergebnissen auch im Vergleich zu den von Hand geschriebenen Aufsätzen zitiere ich hier gern die Auswertung unseres Konrektors Jan Hitz:

„Die Auswertung zeigt, dass sowohl bei den BYOD-Klassen wie auch bei den Nicht-BYOD-Klassen der Vornotenschnitt mit dem Maturnotenschnitt bis auf wenige Zehntelnoten genau übereinstimmt. Die Maturnoten wurden also durch die schriftliche BYOD-Matur nicht angehoben. Weiter ist zu sehen, dass die Noten der schriftlichen Matur Deutsch zwischen 3 und 6 streuen, unabhängig davon, ob BYOD oder nicht. Während die Varianz der Vornoten, der schriftlichen Abschlussprüfungen und der Maturnoten bei den BYOD Klassen praktisch identisch ist wie bei den Nicht-BYOD-Klassen, gibt es bei den mündlichen Abschlussprüfungen Unterschiede in der Streuung, die aber nicht von BYOD oder Nicht-BYOD abhängig sind.“

​Diese statistische Auswertung ist aufgrund der knappen Datenlage zwar mir Vorsicht zu geniessen. Aber wir halten fest: Bei den Pilotklassen hat der Fakt, dass die Schüler*innen ihren Deutsch-Maturaufsatz auf ihren eigenen Geräten geschrieben haben, keinerlei Auswirkungen auf die Noten gehabt. Wohl aber präsentieren sich diese Aufsätze anders: Sie sind eher länger als die von Hand geschriebenen. Sie sind klarer strukturiert, besser lesbar und definieren aufgrund der Recherche-Möglichkeit die Begriffe gründlicher und klarer. Viele Schreiber*innen nutzen auch die Möglichkeit, Zitate und zitierte Personen aufgrund von Recherche besser zu situieren und Positionen fundiert zu hinterfragen. Die Zweitkorrektur der BYOD-Aufsätze wurde jeweils von einer Kollegin übernommen, welche eine Nicht-BYOD-Klasse prüfte. Korrektur und Beurteilung spielten sich ganz ähnlich ab wie bei einem rein analogen Setting. Und eine oft gestellte Frage lässt sich klar beantworten: Ja, auch digital geschriebene Texte kann und muss man korrigieren und ganz normal beurteilen. Sie enthalten auch immer noch Sprachfehler und stilistische Mängel. Das wissen nicht nur wir Lehrpersonen von BYOD-Klassen, sondern wir alle, die wir seit Jahren regelmässig digital geschriebene Texte lesen und beurteilen müssen. Hinzu kommt, dass wir darauf achten, wie die Schüler*innen mit Quellen umgehen. Die eingangs zitierte Deutschlehrerin Seraina Gartmann zieht folgendes Fazit: «Einen Aufsatz auf dem Laptop zu schreiben ist kein Persönlichkeitsverlust, sondern eine Annäherung der Schule an reale Schreibsituationen in der künftigen Arbeitswelt unserer Schüler*innen. Durch die zusätzliche Ressource, nämlich die Recherchemöglichkeit, gewinnen diese Texte an Qualität – etwa durch wissenschaftliche Belege. Dass sich in diesen ersten beiden Pilotklassen die Qualitätssteigerung zwar merkbar in den Aufsätzen, nicht aber in den Noten eindeutig niedergeschlagen hat, hat nichts mit den Texten zu tun, sondern mit der Crux der Notengebung an sich.»

Digitales Prüfen in der Zukunft?

Unser digitales Prüfungssetting benötigte eine Spezialbewilligung der Schulleiter*innenkonferenz. Inwiefern genau diese Form fortgeführt wird und ob andere Fächer auch teilweise oder ganz auf digitales Prüfen umsteigen werden, ist aktueller Gegenstand von Diskussionen. Denn die Schriftlichen in den anderen Fächern mussten auch diese beiden Pilotklassen auf Papier schreiben. Bereits bewilligt ist die Eingabe, dass nächstes Jahr vier BYOD-Klassen die Deutschmatur auf eigenen Geräten und mit freiem Internetzugang absolvieren sollen. Zusätzlich darf das Fach Englisch den Aufsatzteil der Maturprüfung auf dem Gerät schreiben lassen, dies auf einer geschlossenen Prüfungsplattform mit Absicherung durch den Safe Exam Browser der ETH Zürich, mit dem sich der Internetzugang und somit auch die Möglichkeit, ein Übersetzungsprogramm zu nutzen, kappen lässt. In Mathematik sollen die BYOD-Klassen eine herkömmliche Maturprüfung absolvieren, die aus zwei Teilen besteht: einem Rechner-Teil und einem Teil nur mit Papier und Bleistift ohne technische Hilfsmittel. Die Nicht-BYOD-Klassen verwenden im Rechner-Teil ihren üblichen TI-Nspire CAS Handheld, die BYOD-Klassen arbeiten mit der TI-Nspire CAS Software auf ihrem eigenen Gerät.

Unsere Erfahrungen und Befunde präsentierten wir in einem ersten Schritt dem eigenen Kollegium und stellten sie zur Diskussion. Bereits bekundeten das Wirtschaftsgymnasiums Basel-Stadt und die Berufsfachschule Baselland ihr Interesse an unserem Setting. Wir wurden eingeladen, am Wirtschaftsgymnasium vor der Gesamtkonferenz über unseren Pilotversuch zu berichten. Anwesend war auch die kantonale Steuergruppe der Basler Sek-II-Schulen. 2025 sollen alle Prüfungsfächer in Basel mit einer digitalen schriftlichen Matur am Start sein. Das ist die Vorgabe. Ob diese Prüfungen einen freien Internet-Zugang ermöglichen oder ob sie auf einer geschlossenen Plattform erfolgen, ist noch offen. Auf jeden Fall aber stehen digitale Abschlussprüfungen in Basel-Stadt in naher Zukunft schon auf dem Plan, und die Vorbereitungen dazu haben begonnen.

Unsere Erfahrungen und Erkenntnisse teilen wir mit diesem Text und hoffentlich auch noch in Gesprächen mit unserer eigenen kantonalen Fachschaft Deutsch. Denn es kommen jetzt immer mehr Klassen am Gymnasium und in der FMS in Baselland zum Abschluss, die im Unterricht und in Prüfungssituationen digital arbeiten.

Zum ersten Mal im uns bekannten Bildungsraum Nordwestschweiz haben dieses Jahr also zwei Abschlussklassen ihre Maturprüfungen auf ihrem persönlichen Laptop und mit freiem Zugang zum Internet geschrieben. Wir wollen das eine Open-Net-Prüfung nennen, also eine Prüfung, bei der nicht nur ein Schulbuch offen ist, sondern sämtliche digital abrufbaren Quellen zur Verfügung stehen. Deswegen habe ich zum Prüfungsstart meiner Pilotklasse nicht nur den Anti-Betrugs-Paragrafen vorgelesen, sondern auch feierlich verkündet: „Wenn Sie heute auf Ihren eigenen Laptops inspiriert in die Tasten hauen, dann schreiben Sie nicht einen Maturaufsatz, sondern Sie schreiben ein Kapitel Bildungsgeschichte!“