Geduld ist der Schlüssel zum Paradies

Zwei Gym-Chöre mit 160 Stimmen singen mit dem Sinfonieorchester Basel die Totenmesse von Verdi, unglaublich! Und auch das Orchester scheint es zu geniessen, mit so vielen Jugendlichen zu musizieren.
Von Elina Umbricht (Fotos: Daniel Nussbaumer)

Schon ein halbes Jahr sind wir, der Gym Chor Muttenz, daran, das Verdi Requiem zu üben. Eine lange Zeit für Jugendliche, um sich mit einem Kirchenstück zu beschäftigen. Einige wenige haben es sogar bereits vor drei Jahren gelernt und können es schon, weshalb wir anderen am Anfang etwas überfordert sind. Dann schauen wir jedoch Stück für Stück an und mit der Zeit geht es recht gut. Nach den wöchentlichen Proben haben wir auf dem ganzen Heimweg die Melodien im Ohr und am nächsten Tag singt auch mal jemand im Unterricht – die armen Lehrpersonen, so gut hört es sich vielleicht doch noch nicht an!

Vor den Sommerferien haben wir am Gym Muttenz unser berühmtes Chorlager und somit viel Zeit für Verdi. Die „Messa da Requiem“ klingt immer besser und wenn es so gut läuft, macht das Singen richtig Spass. Mit Proben sind wir jedoch noch lange nicht fertig. «Nun geht es nicht mehr darum, die Töne zu treffen», meint der Chorleiter Christoph Huldi. «Das Wichtige ist jetzt die Gestaltung. Ihr müsst das Publikum berühren.» Von dieser unvergesslichen Woche zurück, treffen wir endlich den Chor des Gymnasiums Liestal, mit dem wir dieses Projekt teilen – ein unglaublicher Sound, wenn so viele Stimmen zusammenkommen. Und mit dieser Erinnerung geht es dann in die Ferien. Wahrscheinlich bin ich nicht die Einzige, die befürchtet, dass nach sechs langen Wochen nicht mehr alles präsent ist, aber dafür haben wir ja nochmals Proben und schliesslich hat man sich die wichtigen Dinge auch in die Partitur geschrieben.

Wie geplant starten wir nun in der zweiten Woche des neuen Schuljahres mit den Intensivproben. Den ganzen Samstag sind wir am Picassoplatz, wo normalerweise das Sinfonieorchester «lebt». Nicht immer bin ich motiviert, die Hälfte meines Wochenendes für die Proben zu opfern, aber schwere Werke benötigen eben Geduld.

Am Dienstag sind wir das erste Mal im Stadtcasino und warten gespannt auf unseren angekündigten Dirigenten Giampaolo Bisanti. Als jedoch die Nachricht kommt, dass dieser krank sei und nicht kommen könne, sind alle enttäuscht oder gar geschockt. Glücklicherweise kann ein talentierter junger Italiener, Leonardo Sini, für ihn einspringen. Zur Frage, ob er direkt zugesagt habe, sagt er: «I was absolutely sure I would take it because I love this piece and doing it with such a special environment is even more exciting.» Wir hatten also einen grossartigen Ersatzdirigenten.

Leonardo Sini vor dem Stadtcasino Baselhttps://www.instagram.com/leonardosini_conductor/

Am Abend dürfen wir erstmals das Orchester hören und das Werk mit ihm erarbeiten, ein weiterer Höhepunkt für uns. Auch die Musiker*innen scheinen zufrieden zu sein, denn am Ende bekommen wir sogar einen Applaus von ihnen. Mit so einem guten Jugendchor hätten sie noch nie zusammengearbeitet, meint ein Musiker. Und ein anderer sagt, er sei nun schon 30 Jahre beim Sinfonieorchester und dies sei das beste Verdi-Requiem, das er gespielt habe. Wir fühlen uns also schon ein bisschen geehrt und arbeiten gemeinsam auf unser Ziel, das Konzert, hin. Die Tage vergehen wie im Flug und je besser es geht, desto mehr Freude haben alle. Das einzige Problem ist, dass unsere Stimmen langsam an den Anschlag kommen, vor allem meine. Ojemine, jetzt nur lieber etwas vorsichtig sein!

Nun sind auch die Solosänger*innen dabei und es geht richtig ab. Die ganze Truppe ist gespannt auf den Flashmob am frühen Abend. Wir sollen uns möglichst unauffällig auf dem Barfi verteilen und wenn das Orchester so weit ist, von unserem Platz aus den ersten Einsatz singen. Unauffällig ist jedoch schwer, denn von drei Seiten sind Kameras aufgestellt und die Menschen stehen da, wie wenn sie etwas erwarten würden.

Alles läuft nach Plan, wir schmettern das „Dies irae“ über den Barfüsserplatz und die meisten sind sich wohl einig, dass das eine coole Aktion war. Sowas macht man sicher nicht gleich wieder. Zurück im Casino machen wir uns bereit für die Generalprobe, wo wir auch schon einige wenige Zuschauer haben. Auch hier klappt alles bestens, der Dirigent ist zufrieden und abermals bekommen wir einen Applaus von den Musizierenden. Glücklich machen wir uns, früher als erwartet, auf den Nachhauseweg und fragen uns, wo denn diese ganze Probezeit hin ist.

Am Freitag, den 26. August sind alle, die an diesem Projekt mitsingen, voller Vorfreude. Wir treffen uns eine Stunde vor Konzertbeginn, damit wir noch genügend Zeit zum Einsingen haben. Den meisten Stimmen geht es glücklicherweise wieder besser, weil sie Zeit zur Erholung hatten. Plötzlich kommt Lucia Germann und sagt, sie habe noch drei Tickets, ob jemand Interesse habe. Es vergeht keine Minute und zack, sind alle weg! Ausverkauft sei das Konzert – bis auf den letzten Platz, meint auch Christoph Huldi. So etwas habe er mit dem Chor noch nie erlebt. Geordnet in den Reihen laufen wir auf die Bühne und stellen uns auf. Die vier Solist*innen kommen herein, der Dirigent tritt auf. Es kann beginnen. Die ersten Töne der Celli sind so leise, dass man sie kaum hört. Jedermann ist gespannt und hält den Atem an, schon die kleinste Bewegung könnte stören. Der Anfang ist ruhig und leise, dann wird es lauter, das Orchester gewinnt an Klangkraft. Es geht von Trauer und Verzweiflung zu Drama und schliesslich zur Bitte, uns zu erlösen. Verdis Meisterwerk enthält unfassbar viele Emotionen. Die Besucher*innen werden mitgerissen in einen Gefühlsstrudel und auch hier, wie bei unserer gesamten Probezeit, braucht man Geduld, bis schliesslich das Ziel, das Paradies, erreicht ist. Viel zu schnell kommen wir nach ca. 90 Minuten mit schmerzenden Rücken zum Schluss und singen die letzten Töne. Der Dirigent winkt ab, die Instrumente verklingen, niemand bewegt sich. Einige Sekunden bleibt es totenstill, dann lässt Leonardo Sini die Arme sinken und der Applaus setzt ein. Es ist wirklich vorbei, ich kann es gar nicht glauben. Erst gerade sahen wir doch noch auf die vielen Probetage, die vor uns lagen. Erleichterung, dass man nun wieder mehr Zeit hat für andere Dinge, aber auch Trauer, dass der grosse Moment schon fast in der Vergangenheit liegt. Die nette Nachbarin vom anderen Chor werde ich wahrscheinlich nie mehr sehen… oder vielleicht irgendwann, irgendwo trifft man sich wieder… Nun schaue ich erneut ins Publikum und mir wird bewusst, dass alle stehen. Wow, Standing Ovation, das kommt nicht immer vor! Die Solosänger*innen verbeugen sich, das Orchester steht auf, setzt sich wieder, die Chorleiter*innen kommen nach vorne, der Dirigent verbeugt sich. Dann gehen die Solisten*innen hinaus, kommen wieder hinein, die Chorleiter*innen kommen, wie oft? Keine Ahnung, ich habe den Überblick verloren. Wir alle wissen wohl nicht genau, ob es eine Zugabe gibt oder dies nun definitiv das Ende ist. Irgendwann löst sich der Chor langsam auf und wir strömen auf beiden Seiten nach draussen, die Frage ist also geklärt.

Es war ein wahrhaftig tolles Erlebnis, mit so vielen anderen zu singen, auch wenn es viel Zeit in Anspruch genommen hat. Vielen Dank an die Chorleitung, das Orchester und den Dirigenten! Alle Chorsänger*innen, die noch nicht genug haben von Verdis Requiem, können ausserdem im November am 3. Phil-A–Förder- und Gedenk-Konzert des Chors von Martin Studer mitsingen und mit dem Geübten in Zürich, Luzern und Bern auftreten. Eine grossartige Chance!

Das Konzert fand statt am 26. August 2022 im Stadtcasino Basel. Giuseppe Verdi: Messa da Requiem. Sinfonieorchester Basel mit den Gym Chören Muttenz und Liestal. Dirigent: Leonardo Sini. Solist*innen: Susanne Bernhard (Sopran), Stefanie Iranyi (Mezzosopran), Sung Min Song (Tenor) und Tillmann Rönnebeck (Bass). Chorleitung und Korrepetition Gym Muttenz: Christoph Huldi, Jürg Siegrist, Christine Boog, Olivia Zaugg. Chorleitung Gym Liestal: Lucia Germann von Schweinitz, Michael Zumbrunn.