Schnapsmatrizen, Graphax, Netbook

Ein Interview mit dem ersten Rektor und einem der ersten Schüler des Gymnasiums Muttenz

Das Gymnasium Muttenz hat letztes Jahr seinen 40. Geburtstag gefeiert. In seiner Wohnung empfängt uns Jacques Wirz, der erste Rektor der Schule. Theo Zahno war in der ersten Schülergeneration und ist jetzt Mathematiklehrer am Gymnasium Muttenz. Sie unterhalten sich mit uns über Schule und Schüler im Wandel der Zeit.

Herr Wirz, wie haben Sie die ersten Schüler am Gymnasium Muttenz erlebt?

Wirz: 1968 war vier Jahre vorher. Das bekam ich zu spüren, als ich noch am Lehrerseminar unterrichtete. So wurde ich einmal vor ein Seminaristengericht gestellt. Es fehlte jede Unterstützung der Seminarleitung. Ich war den Seminaristen ausgeliefert. Es stand mein Unterricht zur Debatte. Ich gewann aber. Die waren sehr fair.

Als ich nach Muttenz kam, hatten die Rektoren keine Ahnung vom Untergrund in ihren Schulen. Ich hingegen kannte die Schülerorganisationen bereits von Basel her. Dort gab es sie überall. Sie äusserten ihre Meinungen offen. Als neuer Rektor in Muttenz habe ich selbst die Schülerorganisation sofort eingeführt. In Liestal und in Münchenstein waren die Schülerorganisationen nämlich ohne Kenntnis der Lehrerschaft tätig und nahmen an Versammlungen in Basel-Stadt teil. So holten sie sozusagen den Virus in die Landschaft. Das hat man dann aber mir vorgeworfen vonseiten der anderen Rektoren, ich hätte den Virus eingeschleppt. Das war aber sowieso nicht zu verhindern.

Was hat die SO denn wirklich gemacht?

Wirz: Die Schüler haben vor allem geredet und dazu Vollversammlungen mit allen Schülern abgehalten. Das waren damals nur sechs Klassen. Diese waren auch eher widerwillig bei uns, denn wir hatten die eidgenössische Anerkennung noch nicht. Die mussten wir erst noch erwerben. Allgemein war die Mentalität unserer Schüler sehr kooperativ. Der Lehrer hat eigentlich bestimmt, wie es läuft. Die Aktiven in der SO haben nicht versucht, die Schüler aufzuwiegeln. Das war auch nicht in ihrem Interesse. Sie wollten ja auch eine Matur machen. Ein Beispiel für die Kooperation der SO waren die Aktionen anlässlich der Abstimmung über die Kantonsbeiträge an die Basler Uni. Ursprünglich wollte die Basler Uni keine Beiträge von Baselland, weil sie auch keine Mitsprache wünschte. Als es finanziell nicht mehr reichte und langsam gleich viele Baselbieter wie Baselstädter Schüler an der Uni studierten, änderte sich das. Es stand also eine Abstimmung im Baselbiet bevor. Ich berief eine Arbeitsgruppe ein und vereinbarte mit der SO, dass sie ein Strassentheater aufführen solle. Den Text schrieben wir in der Arbeitsgruppe. Ich machte den Schülern klar, dass die Uni einen Numerus clausus gegen die Baselbieter Schüler einführen würde, wenn die Abstimmung verworfen würde. Sie wussten also, was auf dem Spiel stand, nämlich ihre eigene Haut. Unsere Schüler waren mit einem Fuhrwerk, das von einem Pferd gezogen wurde, in Pratteln, Muttenz und Birsfelden unterwegs. Da war ein Rednerpodium drauf und sie hatten Transparente: „Am 13. Juni es Jo für d’ Uni!“ Die anderen Gymnasien hatten eher Angst, solche Aktionen könnten kontraproduktiv sein. Alles, was Schüler damals so anzettelten, hatte für viele den Geruch des Linken. Aber unsere Aktion schlug voll ein! Die Abstimmung wurde am 13. Juni 1976 angenommen. Die Schüler hatten sich also im Interesse der Schule eingesetzt.

Wenn es mal Opposition gab, waren eher die Eltern dahinter. Wir liessen einmal einen Maturanden die Matur machen, der vorher in Reigoldswil einen Banküberfall gemacht hatte. Der kam aus der Untersuchungshaft grad an die Maturprüfung. Da hat man sich auch an höherer Stelle für das Gymnasium Muttenz geschämt. Ich hatte aber die Justiz auf meiner Seite und war dagegen, dass so jemand doppelt bestraft würde. Er hatte uns nichts getan, sowieso ist die Matur nie ein moralisches Examen gewesen. Da kamen dann aber die Schüler aufs Rektorat und sagten, sie würden sich schämen, mit so einem zusammen die Matur zu erhalten. Ich sagte einfach: „Ihr müsst die Matur ja nicht nehmen!“

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Theo Zahno (links) und Jacques Wirz (Foto: Nu)

Zahno: Die Schulzeit ist eine gute Erinnerung für mich. Und mir persönlich war die Schülerorganisation auch sehr wichtig. An den Vollversammlungen kannte jeder jeden, was heute mit tausend Leuten natürlich nicht mehr möglich ist. Es war auch spannend, als Lehrer wieder an diese Schule zu kommen. Ich hatte zuerst Bedenken, wie das sein würde, wenn ehemalige Lehrer nun plötzlich meine Kollegen würden. Das war aber nie ein Problem und ich wurde sofort aufgenommen. Auch die SO war noch aktiv und setzte sich stark dafür ein, dass wir überhaupt Turnhallen bekamen. Vorher turnte man einfach irgendwo. Es ist mir auch heute noch wohl hier, weil der Umgang untereinander ein offener und kooperativer ist.

Hättest du, Theo, bei dem Strassentheater mitgemacht?

Zahno: Das weiss ich nicht. Ich hätte es auf jeden Fall unterstützt.

Wirz: Da wärst du gar nicht reingekommen, Theo. Das war ein verschworener Klüngel. Es ist eher ein Lob, wenn ich sage, dass du da nicht dabei gewesen wärest. Denn das waren die Schlimmen. Darunter war auch einer derjenigen Schüler, die ich später aus disziplinarischen Gründen von der Schule ausschliessen musste, was damals ein Rektor allein noch entscheiden durfte. Der Präsident der SO – ein halber Räuber!

Was für Lehrpersonen haben damals am Gymnasium Muttenz unterrichtet und welchen Berufsanspruch hatten sie?

Wirz: In den 70er-Jahren gab es in Muttenz und Birsfelden eine regelrechte Bevölkerungsexplosion. Die Schülerzahlen nahmen zu. Es brauchte viele neue Lehrpersonen. Aber der Markt dafür war ausgetrocknet. Viele neue Lehrpersonen wollten auch nicht grad an ein Gymnasium kommen, das noch keine eidgenössische Anerkennung hatte. Wir hatten mit dem damaligen Erziehungsdirektor in dem Sinne Glück, dass er uns in dieser schwierigen Situation freie Hand liess beim Einstellen der Leute. Er verlangte nicht unbedingt, dass alle Diplome vorhanden waren. Ich liess dabei meinen Lehrpersonen eine möglichst lange Leine. Denn für mich hat das Lehramt etwas von einem künstlerischen Beruf. Und jeder sollte seinen eigenen Stil finden. Ich bin eher ein Anti-Methodiker. Darunter waren wirklich spezielle Persönlichkeiten, wie z. B. der Physiker Bruno Keller…

Zahno: Ja, das war eine schillernde Figur! Der hat quasi in der Schule und für die Schule gelebt. Er wurde eines Nachts sogar fast verhaftet, weil er Optikversuche gemacht und die Polizei ihn für einen Einbrecher gehalten hatte.

Hat sich das heute bei den Lehrpersonen gewandelt?

Zahno: Ich erlebe, dass viele in unserem Kollegium mit vollem Engagement dabei sind. Es ist auch wichtig, dass Lehrpersonen ihre Arbeit nicht nur als Beruf sehen, sondern auch als Berufung. So kommt die Schule auch weiter, etwa nach dem Motto: „Die Welt funktioniert nicht wegen denjenigen, die das tun, was sie müssen, sondern wegen denjenigen, die mehr tun, als sie tun müssen.“ Und das sind viele bei uns.

Wie funktionierte Unterricht in den Anfängen des Gymnasiums Muttenz? Welche Medien kamen zum Einsatz?

Wirz: Das ist schnell gesagt. Die grosse Neuerung für mich im Medienbereich war eine Kopiermaschine Graphax in der Gewerbeschule. Wir hatten nur Schnapsmatritzen. Es war schon eine Neuerung, dass wir ein Gedicht oder Grammatikblätter einfach vervielfältigen und austeilen konnten. Uns wurde noch stundenlang die englische Grammatik diktiert. Für den Lehrer war das toll! Beim Unterrichten waren wir sehr froh um jedes technische Hilfsmittel. Diese haben den Unterricht wahrscheinlich mehr verändert als jede neue didaktische Idee.

Zahno: Wir hatten im Gymnasium nur einen Computer. Ich habe die Mathematik-Matura mit dem Rechenschieber und Logarithmentafeln gemacht. Der Physiklehrer Bruno Keller war der Erste, der einen Taschenrechner hatte. Der hatte über 1000 Franken gekostet. Wir hatten zwar Informatikunterricht, aber nur einen einzigen Computer an der Schule mit einem xyz-Register. Zum Programmieren hatten wir Karten, auf denen wir Felder anmalen mussten. Im Freifach Informatik durften wir dann ans kantonale Rechenzentrum nach Liestal. Und Franz Fischer, das muss man sich mal vorstellen, schaltete dann den Computer des Kantons ein und wir stanzten dann unsere Lochkarten. Später erhielten wir die Erlaubnis, im Technikum Lochkarten zu stanzen. Mit denen fuhren wir dann nach Liestal. Aber unsere Karten funktionierten dann nicht, weil Liestal eine andere Codierung hatte. Das waren damals also die Kompatibilitätsprobleme, die wir heute ja auch noch kennen. Dadurch, dass ich alles so auf einfacher Basis von Hand machen musste, habe ich viel gelernt. Heute hat die Elektronik, weil sie so einfach ist, einen spielerischen Effekt. Das heisst, ich muss als Lehrperson aufpassen, dass nicht das Spiel im Vordergrund steht, sondern dass ich wirklich gezielt damit arbeite und in genau definierten Zeiträumen. Wir testen das ja jetzt gerade in einer Netbook-Klasse.

Wie hat man denn in der Schule gelernt? Und wie haben die Lehrer gelernt?

Wirz: Lehrerfortbildung hat wahrscheinlich weniger professionell als heute stattgefunden, sondern eher experimentell. Bei der Lehrerfortbildung stand der soziale Gewinn im Vordergrund. Es gab zum Beispiel Tagungen auf dem Leuenberg bei Hölstein, dort hatte man Zeit füreinander, konnte gemeinsam essen und besprach pädagogische Fragen.

Bezüglich des Lernens der Schüler haben wir auch einiges versucht. Zu meiner Zeit gab es die starke Tendenz, dass der Schüler nicht nur unterrichtet wird, sondern dass er das, was er gelernt hat, an diejenigen weitergeben kann, die den Stoff nicht verstanden haben. Dabei ging es wirklich um gegenseitige Lernhilfe. Wir haben zum Beispiel probiert, dass gute Schüler in der Mathematik mit schwachen Schülern gelernt haben. Chancengleichheit war dabei so ein Stichwort. Einzelne Schüler hatten ein akademisches Zuhause, vielleicht sogar Mathematiker, die ihren Kindern helfen konnten. Fabrik- oder Hafenarbeiter konnten das nicht. Diese Art von Idealismus gab es damals noch, und das war sozial sehr wertvoll.

Wie war das Verhältnis vom Gymi Muttenz zum Kanton?

Wirz: Einmal hat zum Beispiel der Erziehungsdirektor in einer Sitzung etwas Merkwürdiges gesagt – wie ein Orakel: „Vor lauter Sparen verlieren wir den Anstand.“ Ich habe das nie verstanden, bis herauskam, dass man das Gymnasium Muttenz wieder abschaffen wollte, kaum war es gestanden und hatte die eidgenössische Anerkennung erhalten. Der Grund lag in den Prognosen über sinkende Schülerzahlen. Damals sind wir schwer in die Schusslinie geraten!

Zahno: Das Problem damals war, dass wir einen Baustopp für Schulhäuser im Kanton Baselland hatten. Doch zum Glück stand das Kriegackerschulhaus in Muttenz leer – eine langjährige Bauruine. Das Gebäude war ursprünglich für einen Gesamtschulversuch geplant, der aber in einer Volksabstimmung abgelehnt wurde. Daraufhin konnten wir mit dem Gymnasium in dieses Schulhaus einziehen. Eigentlich gab es seit 1972 Pläne für ein Gymnasium. Es sollte dort stehen, wo jetzt immernoch die Schrebergärten sind.

Wirz: Wir hatten uns schon auf einen Einzug in dieses geplante Schulhaus vorbereitet. Doch dann kam dieser Baustopp alles wurde auf Eis gelegt. Schlimmer noch: Es gab nicht nur kein neues Schulhaus – die Schule selbst sollte wieder verschwinden. Es sollte einen Entscheid darüber geben, ob die Birsfelder Schüler in die Stadt oder nach Muttenz gehen würden. Basel hätte diese Schüler aufgrund des eigenen Schülerschwundes gerne aufgenommen. Die Entscheidung lag beim Gemeinsarat von Birsfelden. Wir hatten das Glück, dass die Kinder von zwei Gemeinderäten an unser Gymnasium gingen und dort florierten. Die gute Meinung ihrer Väter über das die Kinder fördernde Gymnasium rettete uns: Die Birsfelder entschieden sich für uns. Später, ich glaube, es war 1980, konnten wir in das jetzige Schulhaus einziehen.

Wann ist denn das Fricktal dazugekommen?

Wirz: Die Fricktaler sind langsam dazugekommen. Im Fricktal gab es ja keine Mittelschule. Eigentlich sollte in Stein eine Mittelschule für das Fricktal entstehen, aber dann gab es auch im Aargau diesen Baustopp und diese Mittelschule ist nie gekommen. Wir haben dann in einem ehemaligen Turnlehrer, der ein gutes Verhältnis zum Gymi Muttenz behalten hatte, einen Unterstützer gefunden. Der wurde Rektor an der Bezirksschule Rheinfelden und hat seine Schüler zu uns geschickt.

Dazu kam, dass der Ruf von Basel ins Fricktal gedrungen ist, nämlich dass die Stadt „verdrögelet“ sei. Bei uns ist dann jeder geflogen, wenn herauskam, dass er Drogen verteilt. Obwohl es ja auch Eltern gab, die fürs Drögelen waren. Nun ja, die „Klagemauer“ am Barfi war ja als offene Drogenszene verrufen. Die Aargauer Eltern hatten natürlich einen Heidenschrecken, ihre Kinder dorthin zu schicken. Und so haben sie sie lieber in Muttenz aussteigen lassen. Bei uns gab es zwar auch einzelne Fälle, aber niemals in einem solchen Ausmass wie in der Stadt. Mittlerweile hat das Gymnasium Muttenz einen Anteil von knapp 50% Aargauern.

Basel hat im Verhältnis zu den Fricktalern einen weiteren Bock geschossen. Um an der Kantonsschule Aargau aufgenommen zu werden, brauchte man einen Notenschnitt von 4,5. Wer diesen Schnitt nicht erreichte, wurde nicht genommen. Basel hat dann aber gesagt: Wir nehmen alle! Denn in Basel war eine Zeit lang die „weiche Schule“ in Mode. So wollte man die Noten abschaffen. Das wurde ernsthaft diskutiert – nach dem Motto: „School ist fun“. Was für ein Quatsch! Wir haben dagegen gesagt: Wir nehmen die Schüler nach den gleichen Kriterien wie das Aargau. Dadurch haben die Fricktaler Vertrauen gefasst, denn man hat erkannt, dass Qualität gefordert wurde.

Heute kann man sich den Druck der Landbevölkerung auf einen Gymnasiasten von früher, also zu meiner Gymnasialzeit 1942 bis 1945, gar nicht mehr vorstellen. Ich bin in Sissach aufgewachsen. Da wurde ein Gymnasiast auf der Strasse irgendetwas gefragt, zum Beipsiel, ob Goethe Rösti mochte. Der Fragende wusste immerhin, dass Goethe in der Schweiz gewesen war. Wenn ich dann sagte: „Ich weiss das nicht!“, dann hiess es: „Aber du gehst doch aufs Gymnasium! Du musst das doch wissen!“