von Eric Schmutz
Kürzlich sah ich die Titanic mit einem Eisberg kollidieren und mit dem wie immer adrett gekämmten Leonardo DiCaprio in die Tiefe der Kinoleinwand sinken. Ich sah den Untergang des Dampfers, auf dem zwischen der ersten und der dritten Klasse die Kulturen aufeinanderprallen. Oben das schöne Leben mit Musik, Kunst und gehobener Unterhaltung, unten Starkbier und wilde Party. Millionenfach seit dem realen Untergang 1912 musste das Schiff als Metapher herhalten für das Scheitern der technisierten und kultivierten Welt.
Auch die Schule erscheint mir manchmal als schwer zu steuernder Dampfer mit zu grosser Trägheit und zu viel Tempo. Auch bei uns steigen die Passagiere mehr oder weniger froh und motiviert an Bord und geniessen das kultivierte Angebot in verschiedenen Klassen, bis sie ins kalte Wasser des Erwachsenseins springen müssen. Hier aber beginnt meine Metapher ganz böse zu schwanken. Unsere Passagiere steigen meist in den nächsten Dampfer und fahren fröhlich und erfolgreich fort im Ozean des Lebens. Die Trennung zwischen Klasse, Kultur und Partyspass überwinden sie locker – den Eisberg, an dem die schöne Fahrt scheitern könnte, nehmen die wenigsten war.
Bei dem Psychologen Alexander Thomas ist der Begriff der Kultur vom Bild des Dampfers in das des Eisbergs gesprungen. So wird die Kultur zur Herausforderung blinder Technikgläubigkeit. Gut sichtbar über der Wasseroberfläche liegen kulturelle Äusserungen wie Literatur, Theater, Musik, Bildende Kunst. Doch unsichtbar darunter schwimmt die grosse Masse des Eisbergs mit den Normen und Werten, den Umgangsformen, Verhaltensregeln und sozialen Kompetenzen, die unser Leben und den Zusammenhalt unserer Gesellschaft bestimmen. Ohne dieses Fundament ist Kultur nicht denkbar und ohne die Spitze gibt es kein Fundament unserer Gesellschaft. Wir brauchen diese Kultur, damit wir in strahlender Schönheit würdevoll auf dem Ozean des Lebens treiben können und nicht beim ersten kleinen Dampfer, der uns mit seinen Konflikten und Ungerechtigkeiten rammen will, auseinanderbrechen.
Deshalb müssen wir Zeit, Engagement und nicht zuletzt auch Geld in Kultur an der Schule investieren. Wir brauchen im Unterricht Raum für die Pflege von kulturellem Wissen, Können und Geniessen. Wir brauchen Konzerte, Ausstellungen, Exkusionen, Theater, Kino – die ganze Bandbreite kultureller Äusserungen in und ausserhalb von Lehrplan und Schulzimmer für das Bestehen dieses Fundaments. Damit wir nicht wie der unglückliche Schiffskonstrukteur der Titanic eines Tages zu unseren Passagieren sagen müssen: „I’m sorry that I didn’t build you a stronger ship“, sondern wie der gefasste Mr. Guggenheim dem Schicksal entgegensehen: „We are dressed in our best and prepared to go down as gentlemen. But, we would like a brandy.“