Maturarede 2019 von Claude Janiak, Ständerat Basel-Landschaft
Sehr geehrte Frau Präsidentin und Mitglieder des Schulrats
Sehr geehrte Frau Rektorin und Herren Vizerektoren
Liebe Eltern
Sehr geehrte Damen und Herren
und vor allem:
Liebe Maturandinnen und Maturanden!
Zuallererst gratuliere ich Ihnen, liebe Maturi et Maturae, sehr herzlich zur bestandenen Reifeprüfung. Sie haben damit die Türen zu Ihrer persönlichen Zukunft weit aufgestossen.
Zwischen Ihnen und mir klaffen rund 50 Jahre Altersunterschied. Dennoch erkenne ich Parallelen zwischen meiner und Ihrer Generation. Das hat auf Ihrer Seite mit Ihrem Aufbegehren gegen aktuelle Probleme, insbesondere die Klimaproblematik, und auf meiner Seite mit dem Jahr 1968 zu tun. Lassen Sie mich deshalb etwas ausholen.
Ich bin 1948 geboren, drei Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs.
1948 blockierte die Sowjetunion Berlin, und die übrigen alliierten Siegermächte versorgten die Stadt mit Nahrungsmitteln über eine Luftbrücke: 277’000-mal flogen englische und amerikanische Flugzeuge Nahrungsmittel, Kohle und andere überlebenswichtige Güter nach Berlin.
1948 proklamierte David Ben-Gurion den Staat Israel. Noch in der Gründungsnacht erklärten Ägypten, Saudi-Arabien, Transjordanien, Libanon, Irak und Syrien dem neuen Staat den Krieg. Es folgte der Israelische Unabhängigkeitskrieg.
1948 war CVP-Bundesrat Enrico Celio Bundespräsident in der Schweiz. Neben ihm sassen sechs weitere Männer im Bundesrat, drei davon waren in der FDP, einer in der SP: Ernst Nobs.
Ich bin als polnischer Staatsangehöriger geboren worden. Unser Vater war während des Krieges als Pole in die Schweiz gekommen und hier interniert worden. Unsere Mutter verlor aufgrund der damaligen Gesetze nach der Heirat mit einem Ausländer ihren Schweizer Pass, während jede Ausländerin, die einen Schweizer Mann heiratete, mit der Heirat Schweizerin wurde – eine Ungerechtigkeit, die ich bis heute nicht verstehen kann. Kurz: 1948 war eine ganz andere Zeit.
1967 war ich so weit, wie Sie es heute sind: Ich absolvierte am damaligen Humanistischen Gymnasium in Basel die Matura. Danach begann ich sofort mit dem Studium an der Universität Basel.
1967 herrschte wieder Krieg zwischen Israel und seinen arabischen Nachbarländern.
1967 führten die USA einen aussichtslosen Krieg in Vietnam. In den USA wuchs der Widerstand gegen den Krieg. Boxweltmeister Muhammad Ali zum Beispiel verweigerte den Kriegsdienst in Vietnam.
1967 wurde in Südamerika Che Guevara erschossen, in Deutschland startete das Farbfernsehen, in England veröffentlichten die Beatles ihr Album «Sgt. Pepper’s Lonely Hearts Club Band».
Die 68er Unruhen standen vor der Tür und damit Demonstrationen und gesellschaftliche Umbrüche. Zu Tausenden gingen auch in der Schweiz junge Menschen auf die Strasse, sie traten gegen Konventionen an und sprengten mit ihren Protesten viele Ketten.
Das, liebe Maturandinnen und Maturanden, verbindet Ihre Generation mit meiner. Ich habe damals nicht demonstriert, ich war eher ein Braver. Ich habe Jurisprudenz studiert. Umso mehr bewunderte ich damals die jungen Menschen, die auf der Strasse für ihre Anliegen einstanden – und ebenso bewundere ich Sie heute, wenn Sie sich für aktuelle Anliegen einsetzen und auf die Strasse gehen. Vor dem Bundehaus stehen täglich junge Menschen, die die Klimapolitik und die Untätigkeit der Politik anprangern.
Mich hat damals die geopolitische Situation in Europa politisiert. Die Welt war geteilt in zwei Blöcke: in den amerikanisch dominierten Westen und in den von der Sowjetunion dominierten Osten. Mittendrin lag das geteilte Deutschland, geteilt in die BRD im Westen und die DDR im Osten.
Ich war (und bin) polnisch-schweizerscher Doppelbürger und wusste, dass dieses Schwarz-Weiss-Bild der Welt, das uns die offizielle Politik im Kalten Krieg vormachen wollte, dieses Bild, dass der Westen bedingungslos gut und der Osten bedingungslos böse sei, dass dieses Schwarz-Weiss-Bild nicht stimmen kann.
1969 wurde Willy Brandt von der SPD in Deutschland Bundeskanzler. Das hat mich bewegt. Willy Brandt leitete eine völlig neue Politik gegenüber dem Osten, gegenüber der DDR, der Sowjetunion, Polen und den übrigen Ostblockstaaten ein. Er wendete sich vom konfrontativen Klima des Kalten Krieges ab und leitete mit den Ostverträgen einen Kurs der Entspannung und des Ausgleichs ein. 1970 legte Willy Brandt am Ehrenmal der Helden des Ghettos in Warschau einen Kranz nieder. Dabei ging er auf die Knie. Mit diesem «Kniefall von Warschau» bat er um Vergebung für die deutschen Verbrechen im Zweiten Weltkrieg.
Das hat mich elektrifiziert. Willy Brandts Politik war der Anfang vom Ende der Berliner Mauer. Allerdings dauerte es weitere 20 Jahre, bis die Mauer 1989 tatsächlich fiel.
Willy Brandt wurde zu meinem Vorbild. Ich trat deshalb 1971 der Sozialdemokratischen Partei bei. Mein Ziel: Ich wollte politisch aktiv sein. 1974 musste Willy Brandt zurücktreten. Helmut Schmidt wurde Bundeskanzler. Dann kam die nächste Generation, die aufbegehrte.
Ich zog 1974 um nach Bubendorf im Kanton Basel-Landschaft. Ein Jahr später wurde ich dort in den Gemeinderat gewählt. Es war damals Zufall, dass ich so rasch in die Politik kam. Wir hatten eine WG bei der alten Post in Bubendorf. Da fragten uns ein paar Frauen, ob sie in unserer Stube den Altersnachmittag durchführen könnten. Wir haben «Ja!» gesagt, das haben sie so nett gefunden, dass sie für mich Wahlkampf machten und ich prompt in den Gemeinderat gewählt wurde: Ich war 26 Jahre alt, Gemeinderat in Bubendorf und beschäftigte mich mit dem Friedhofsreglement. Das war nicht genau das, was ich mir vorgestellt hatte, aber es war hilfreich. Politik beginnt nicht im Grossen, sondern im Kleinen, da, wo sie die Menschen betrifft.
1975 war das Militär noch eine heilige Kuh in der Schweiz. Dienstverweigerer wurden strafrechtlich verfolgt. Wenn ein Lehrer den Militärdienst verweigert hatte, war das noch ein grosser Skandal und seine Stelle gefährdet.
Heute kämpfe ich wieder gegen ähnlich sture Kollegen (fast nur Männer), welche den Zivildienst weniger attraktiv machen und deshalb deutlich verlängern wollen, weil für ihren Geschmack zu viele junge Menschen den zivilen Ersatzdienst dem Dienst in der Armee vorziehen. Die Dienstpflicht ist etwas, das viele von Ihnen in den nächsten Monaten betreffen wird – es wäre auch ein Thema, für das Sie sich einsetzen können, vielleicht ist es etwas, für das Sie sogar auf die Strasse gehen müssen.
Es ist jetzt 52 Jahre her, dass ich, so wie Sie heute, das Maturzeugnis erhalten habe. In diesen Jahren habe ich gelernt, dass es den Protest auf der Strasse manchmal braucht. Ich möchte Sie deshalb dazu ermutigen, dass Sie sich für Ihre Anliegen einsetzen, wenn nötig auch auf der Strasse – sei das für die Klimapolitik, für die Gleichberechtigung oder dafür, dass der Zivildienst weiterhin als gleichberechtigter Dienst von der Öffentlichkeit beurteilt und geschätzt wird wie der Militärdienst.
Ich habe aber auch gelernt, dass es mit dem Protest nicht getan ist. Es reicht nicht, in einer Menge zu stehen und Parolen zu skandieren. Wer etwas bewegen will, muss sich persönlich exponieren, muss aufstehen, kämpfen und Stellung beziehen, und sei es auch nur durch eine Teilnahme an Wahlen und Abstimmungen – in der Politik zum Glück eben nicht mit dem Gewehr, sondern mit Tastatur und Stift.
Ich bin jetzt 70 Jahre alt und verlasse Ende November die politische Bühne. Meine Ideale aus der Zeit von Willy Brandt habe ich noch immer. Aber ich habe gelernt, dass es viel Durchhaltewillen, Geduld und Bereitschaft zum Kampf braucht. Und die Bereitschaft dazu, im Kleinen, Konkreten zu beginnen und auch anderen Meinungen mit Respekt zu begegnen.
Diese kleinen Schritte sind manchmal furchtbar klein und deshalb mühsam. Aber Sie sind ja jetzt alle maturus oder matura, also reif genug einzusehen, weshalb es kleine Schritte braucht, um Grosses zu erreichen. Ich wünsche Ihnen dabei viel Mut und Gelingen!
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