Vor hundert Jahren wütete die Spanische Grippe im Baselbiet

Spuckverbot während der Spanischen Grippe (StABS Sanität 3.3.)

von Emanuel Wittstich

Wir stecken heute in der COVID-19-Krise und wissen nicht, welchen Verlauf die Pandemie noch nimmt. Wir stehen unter dem Eindruck, dass wir heute und jetzt etwas Einzigartiges erleben. Das mag für uns, die wir im 21. Jahrhundert leben, stimmen. Ein Blick zurück ins 20. Jahrhundert zeigt uns aber anderes: Im Jahre 1918 wurde die Welt von einer Pandemie heimgesucht, welche weltweit 20 bis 50 Millionen Opfer forderte – mehr als im Ersten Weltkrieg insgesamt.

Woher das Virus kam, ist auch heute noch nicht abschliessend geklärt. Im letzten Kriegsjahr brachten es amerikanische Soldaten nach Europa, wo sich das Virus auf dem ganzen Kontinent innert kürzester Zeit ausbreitete. Symptome waren Fieber, Schüttelfrost und Gelenkschmerzen. Es starben auffällig viele Menschen zwischen 20 und 40. Aufgrund neuer Forschungsergebnisse vermutet man, dass beim Versuch, das Virus zu neutralisieren, insbesondere starke Immunsysteme überreagierten und sich gegen die körpereigenen Zellen richteten.

Die Amerikaner brachten also nicht nur die Kriegswende, sondern auch das verheerende Virus nach Europa. Das kaiserliche Deutschland musste sich im November 1918 eingestehen, dass der Krieg verloren war, und fürchtete in der Folge politische Umstürze. Die Regierung wollte zusätzliche Beunruhigung unter der Bevölkerung vermeiden und ergriff bewusst keine Massnahmen gegen die Verbreitung des tödlichen Virus. Weder Schulschliessungen noch Versammlungsverbote wurden beschlossen, was unter anderem dazu führte, dass allein in Deutschland zirka 426’000 Menschen an der Spanischen Grippe starben.

Auch in der Schweiz traf die Spanische Grippe auf eine krisengeschüttelte Nation. Die Bevölkerung war aufgrund unterschiedlicher Sympathien für die kriegsführenden Mächte gespalten. Ernährungskrise, Kriegsinflation und das Fehlen des Erwerbsersatzes für Wehrmänner führten zu Hunger und Not. 1918 bezog ein Sechstel der Schweizer Bevölkerung Notstandunterstützung.

Die Spanische Grippe erreichte die Schweiz in drei Wellen: im Sommer 1918, im Herbst 1918 und im Winter 1918/19. Anfangs Juli sprachen die Behörden noch von einer grippeähnlichen Krankheit und liessen beruhigend verlauten, dass es sich um keine der gefürchteten «Kriegsseuchen» Pest, Cholera oder Fleckfieber handle. Erst Mitte Juli warnte ein Merkblatt vor einer «spanischen Krankheit» und empfahl den Kantonen, Massnahmen wie z.B. Veranstaltungsverbote zu erlassen. Die empfohlenen Schutzmassnahmen in den verschiedenen Kantonen muten heute seltsam an. Empfohlen wurden speziell zubereitete alkoholische Getränke, Bienenhonig, Nasenduschen oder zum Beispiel das Tragen spezieller Amulette.

Im Baselbiet breitete sich die Spanische Grippe ab Mitte Juli aus. In der Kaserne Liestal erkrankten 422 Militärangehörige bei einem Bestand von insgesamt 528 Mann. 20 Rekruten und 3 Soldaten starben innert kurzer Zeit. Die Rekrutenschule wurde – wie alle anderen in der Schweiz – abgebrochen.

Am 22. Juli verbot der Regierungsrat Veranstaltungen mit Publikum, überliess aber weitergehende Massnahmen den Gemeinden, welche mehr oder wenig offen damit umgingen. Als Ende Juli die Erkrankungszahlen rückläufig waren und die Krise vorbei schien, wurden die kantonalen Massnahmen gelockert.

Im September 1918 erreichte eine zweite Welle das Baselbiet und brachte in vielen Gemeinden auch den Schulbetrieb zum Erliegen. Die Schulhäuser, die oft schon während des Krieges als Truppenunterkünfte dienten, blieben an vielen Orten für die schulpflichtigen Kinder von September bis Dezember geschlossen. Ende November zog der Regierungsrat nach und schloss die Schulen im ganzen Kanton. Seine Sorge um die Erfüllung des Lehrplans brachte er zum Ausdruck, indem er die Eltern dazu verpflichtete, ihren Kindern in den Hauptfächern Aufgaben zu geben. Auch das Versammlungsverbot wurde im September wieder verschärft und für Krankenhäuser wurde eine Besuchersperre verfügt.

Das Schulhaus Grossmatt in Pratteln dient als Notspital. (StABL P6466)

Die zweite Welle war heftig. Die Kaserne in Liestal wurde in ein Spital umfunktioniert. In Gelterkinden, Sissach und Pratteln wurden zusätzliche Notspitäler errichtet. Der Bund unterstützte Gemeinden und Kantone und dennoch fehlte es an allen Enden, insbesondere an Ärzten und Pflegepersonal, das von Armee und Zivilbevölkerung gleichzeitig beansprucht wurde und sich auch den Gefahren einer Ansteckung aussetzte. Dies verdeutlicht beispielsweise die Situation im Waldenburgertal, wo der einzige Arzt als Militärarzt diente und sein Stellvertreter anscheinend mehr alkoholisiert denn nüchtern bei der Arbeit war. Die notleidende Bevölkerung war oft auf sich selbst gestellt. Ein Tagebucheintrag verdeutlicht dies:

«Ja, es waren böse Tage, die der Kriegszeit auf dem Fusse folgten, die Tage der Grippezeit. Eine verheerende Krankheit tobte über Europa hin und machte auch an unseren Grenzen nicht Halt. Die Krankheit warf auch mich ins Bett und nahm bisweilen böse Formen an. Die Fieber stiegen bis gegen 40 Grad. Nach äusserst heftigem Nasenbluten trat dann plötzlich eine Wendung zum Bessern ein. Wochenlang dauerte die Erkrankung mit nachheriger langandauernder Schwäche an. Spaziergänge in Tannenwälder hinaus brachten alsbald Besserung. Leider erkrankten fast miteinander fast alle meine Geschwister und zum Teil mit einer solchen Stärke, dass auch das Schlimmste jederzeit zu befürchten war. Glücklicherweise wurden aber alle wieder gesund. Diese Zeit war grauenvoller als der Krieg selber.» (unveröffentlichte Lebenserinnerungen eines Baselbieters)

Die gesundheitliche Situation verschlechterte sich mit dem Landesstreik, der am 12. November ausgerufen wurde. Sowohl die streikenden Arbeiter als auch die zur Streikbekämpfung aufgebotenen Truppen steckten sich gegenseitig an, so dass in der Woche nach dem Streik die Anzahl Neuerkrankungen auch im Baselbiet stark zunahm.

Am 23. November 1918 erliess der Regierungsrat ein Programm mit 19 Punkten zur Grippebekämpfung und ermöglichte damit die einheitliche Bekämpfung der Grippe im Kanton. Die Massnahmen bestanden weitgehend aus Verboten von Versammlungen jeglicher Art und von Vieh- und Warenmärkten. Schulen sollten geschlossen werden, sobald die Grippe auftauchte. Kranke sollten isoliert bleiben und Pfarrer durften nur kurze Gottesdienste halten.

Die Massnahmen von 1918 legen einen Vergleich mit heute nahe. Mit diesen sollten Kontakte und somit potentielle Ansteckungen vermieden werden, genau wie heute mit dem Gebot des «social distancing». Dass nicht alle den Massnahmen Folge leisteten, zeigt sich in den Akten der Strafgerichte. Mehrere Wirte wurden wegen Missachtung des Tanzverbots in der Silvesternacht 1918 gebüsst. Das Tanzverbot blieb denn auch über die Aufhebung des Versammlungsverbots am 11. Januar 1919 hinaus bestehen und wurde erst am 31. Mai 1919 zurückgezogen.

Ähnlich wie heute brachte die Spanische Grippe das Gesundheitswesen der Schweiz an ihre Grenzen und machte Massnahmen nötig, welche das Leben der Bevölkerung massiv einschränkten. Die Opferzahl war hoch: Zirka 2 Millionen Menschen erkrankten. Für 24’449 Menschen verlief die Grippe tödlich. Das entsprach 0.62% der damaligen Bevölkerung.

Es bleibt zu hoffen, dass COVID-19 nicht dieselben Ausmasse annimmt.

Literatur:

Tscherrig, Andreas: Krankenbesuche verboten! Die Spanische Grippe 1918/19 und die kantonalen Sanitätsbehörden in Basel-Landschaft und Basel-Stadt. Liestal 2016

Internet-Quellen (Stand 29. März 2020):