
Dominik Petko ist Professor für Allgemeine Didaktik und Mediendidaktik am Institut für Erziehungswissenschaft der Universität Zürich. Wir haben uns mit ihm Ende März in einer Videokonferenz über den Corona-Lockdown und den Fernunterricht unterhalten. Unsere Fragen und seine Antworten zum digitalen Lernen spiegeln also den Erfahrungsstand zu Beginn der Schulschliessungen.
von Timo Kröner und Daniel Nussbaumer
EF: Halten Sie denn zur Zeit Seminare und Vorlesungen? Wenn ja, wie?
DP: Ja, natürlich halte ich Seminare und Vorlesungen an der Uni. Wir machen das aktuell alles kontaktlos. Dazu verwenden wir vor allem Plattformen, die die Universität schon länger in Betrieb hat. Diese Plattformen haben jetzt eine ganz neue Bedeutung. Während sie früher vor allem als eine Art Dateiablage dienten, entdecken viele Dozierende heute neue Funktionen, die man gut brauchen kann, um zusätzliche Aktivitäten zu realisieren. Teilweise hat die Uni aber auch neue Plattformen eingeführt, insbesondere im Bereich Videoconferencing. Die Palette der Möglichkeiten ist breiter geworden.
Inwiefern erforschen Sie diesen Prozess im Moment?
Tatsächlich haben wir gerade zwei Doktorandinnen, die sich mit der aktuellen Situation beschäftigen. Sie führen Interviews mit Lehrpersonen, wie diese auf die neue Situation reagieren. Wir möchten damit das Spektrum möglicher Reaktionsweisen abklopfen. Das werden Längsschnitt-Interviews, die jetzt, also zwei Wochen nach Beginn der Krise, erfolgen und dann noch einmal in zwei Monaten. Die zentrale Frage dabei lautet: Ermöglicht die aktuelle Situation Erfahrungen, die bleibende Veränderungen in der Unterrichtskultur nach sich ziehen?
Was halten Sie für die interessantesten Entwicklungen bei der Schnelldigitalisierung während des Lockdowns?
Es geht weniger um technische Plattformen als um unsere Unterrichtskultur. Aktuell sind wir gezwungen, Kontrolle abzugeben und mehr selbstgesteuertes Lernen zuzulassen. Dadurch ist die aktuelle Situation eine schöne Gelegenheit für Projektarbeit, wo die Schülerinnen und Schüler an selbst gewählten Projekten arbeiten und wo ich sie als Lehrperson offener begleite und bewerte. Dazu bieten mir digitale Technologien unterschiedliche Werkzeuge. Ich kann erklärende Inputs als Video aufzeichnen, so wie das im Konzept des Flipped Classrooms schon länger üblich ist. Ich kann offenere und komplexere Lernaufgaben stellen, die sich nicht mehr an den zeitlichen Rahmen einer Lektion halten müssen. Die Bearbeitung lässt sich gut in in digitalen Lerntagebüchern und E-Portfolios dokumentieren. Und natürlich muss ich Schülerinnen und Schülern bei der Bearbeitung der Aufgaben ein Coaching anbieten. Hierzu eignen sich zum Beispiel regelmässige Videokonferenzen.
Ist vertieftes, nachhaltiges Lesen auf digitalen Medien möglich und wenn ja, wie muss man das tun?
Wenn Lesen heisst, einen konventionellen linearen Text von A bis Z durchzuarbeiten, dann spielt es keine grosse Rolle, ob ich in einem Buch, auf einem E-Reader oder am Bildschirm lese. Da gibt es meines Wissens auch keinerlei empirischen Befunde, die zeigen, dass das eine schlechter sei als das andere. Wenn Sie aber das Lesen eines Hypertextes meinen oder eine Online-Recherche, dann gibt es deutliche Unterschiede. Die neuen Möglichkeiten der Textgestaltung können entweder zu vertieftem Wissen oder zu vertiefter Verwirrung beitragen. Das kommt darauf an, wie die Medien gebaut sind und welche Kompetenzen die Schülerinnen und Schüler haben, an solche Texte heranzugehen.
Wenn man literarische Werke liest, verführt das Lesen an digitalen Geräten also nicht zu einem oberflächlichen Lesen?
Gerade wenn Sie sich E-Reader mit E-Paper-Displays anschauen, wo das Umblättern ähnlich langsam ist wie das Umblättern in einem Buch, wo das Schriftbild sehr ähnlich ist wie das in einem Buch, da gibt es aus meiner Sicht sehr wenige Unterschiede zum echten Buch. Kaum anders ist es, wenn man ein PDF am Computerbildschirm liest. Auch da ist das Lesen mit neuen Medien normalerweise kaum anders als mit alten.
Allerdings bieten Computer im Gegensatz zum Buch jede Menge Ablenkung. Wenn die ganze Zeit Messages oder Emails reinkommen, dann führt diese Ablenkung dazu, dass ich einen Text nicht so gut lese. Letztlich kommt es auf die eigenen Lese- und Lernstrategien an, ob man einen Text gut verarbeiten kann. Wenn ich versuche, vor dem Lesen meinen Kopf zu entleeren und da hinein einfliessen zu lassen, was in dem Text drinsteht, dann behalte ich natürlich nicht sehr viel. Wenn ich hingegen versuche, mein Vorwissen zu aktivieren und mich frage, was ich bereits über das Thema weiss und was ich von dem Text erfahren möchte, und wenn man sich mit der Struktur des Textes vertraut macht und ihn mit Blick auf die eigene Fragestellung beurteilt, wenn man sinnvoll unterstreicht und den Text nach der Lektüre exzerpiert –, dann werde ich den Text ziemlich gut verarbeiten, egal in welchem Medium ich ihn lese.
Sollten alle Bereiche des Unterrichts digitalisiert respektive digitale Elemente enthalten werden oder gibt es für Sie Bereiche im Unterricht, die von der Digitalisierung verschont bleiben müssen.
Ich finde, dass Schülerinnen und Schülern in allen Fächern Erfahrungen mit digitalen Medien machen können und auch machen sollten. Das muss ja nicht heissen, dass man nur noch digital arbeitet, aber ich finde, kein Fach kann sich dagegen immunisieren, dass man nicht auch digital arbeitet. Das Analoge verschwindet ja nicht. Im Gegenteil: Beide Erfahrungsbereiche haben ihre eigene Berechtigung.
Die Musik kennen wir als eine jahrhundertealte analoge Tradition. Man hat Konzerte mit hölzernen oder metallenen Instrumenten gegeben oder gesungen und das gehört in den Musikunterricht. Aber die heutige Musik ist natürlich auch digital. Die Art, wie Musik heute produziert wird, ist digital. Es gibt unglaublich viele musikalische Angebote online, ganze Communities diskutieren Musik online, Musik wird online vertrieben über Plattformen wie Spotify. Das alles gehört zum Musikunterricht. Damit wir wirklich Bildung vermitteln, müssen wir Tradition vermitteln, aber auch unsere heutige Situation anschauen. Von daher gibt es kein Fach, das sich nicht auch mit digitalen Möglichkeiten beschäftigen sollte – und kann.
Die heutigen Jugendlichen als sogenannte „Digital Natives“ wachsen doch mit alldem schon auf und gehen spielerisch damit um. Können sie sich aber noch fokussieren?
Nach unseren Studien nutzen jüngere und ältere Lehrpersonen Technologie nicht gross unterschiedlich. Innerhalb jeder Lehrpersonengeneration gibt es technologieaffine und weniger technologieaffine. Das trifft genauso auf die Schülerinnen und Schüler zu. Diese jetzt alle pauschal als „Digital Natives“ zu betrachten, ist ein Mythos. Alle Studien, die ich kenne, zeigen, dass es eine riesige Variationsbreite gibt. Einige nutzen Basis-Funktionen, alles Weitere interessiert sie nicht. Dann gibt es andere, die beschäftigen sich mit allen möglichen Facetten digitaler Technologie. Ein weiterer Kurzschluss wäre zu meinen, dass jemand, nur weil er ein Gerät bedienen kann, es auch durchschaut. In solchen Fällen spricht man nicht von „Digital Natives“, sondern von „Digital Naives“. Sie können gut klicken, aber sie schauen nicht hinter die Kulissen.
Was nun die Aufmerksamkeitsspanne betrifft: Es häufen sich im Moment die Studien, die zeigen, dass BYOD in Schulen neben vielen Vorteilen die Herausforderung mit sich bringt, dass das Ablenkungspotential im Unterricht sehr gross ist. Wenn die Geräte auf dem Tisch liegen und Unterricht gehalten wird, die SuS dabei gleichzeitig in Instagram oder in Whatsapp schauen, dann ist das kontraproduktiv und sie lernen nicht so gut. Diese Geräte sind typischerweise assoziiert mit Zerstreuung und nicht mit Fokussierung. Dass man diese Geräte auch für Fokussierung nutzen kann, das muss man lernen. Dazu gehört die gezielte Nutzung in der Schule ebenso wie das gezielte Ausschalten.
Wie sähe denn Ihrer Meinung und Ihrem Kenntnisstand nach die ideale Lernumgebung an einer weiterführenden Schule aus?
Ich nehme wahr, dass in der heutigen Berufswelt immer stärker komplexe Fähigkeiten gefragt sind. Wir müssen Problemlöserinnen und Problemlöser ausbilden, projektorientiert arbeitende, wissenschaftlich denkende Praktiker. Das heisst, wir müssen unsere Unterrichtsformen graduell anpassen. Es ist zum Beispiel immer noch so, dass ein sehr grosser Teil des Unterrichts als lehrpersonengeleiteter Frontalunterricht durchgeführt wird. Da werden Fähigkeiten eingeübt wie gut zuhören und sich mit kleinen Redebeiträgen in gelenkten Diskussionen beteiligen.
Darauf sollten wir in Zukunft zwar nicht verzichten, aber wir müssen den Umfang dieser Unterrichtsform verringern. Der deutsche Didaktiker Hilbert Meyer spricht davon, dass Frontalunterricht, also lehrpersonengeleitete Erklärungen und Klassengespräche, nur noch etwa einen Drittel des Unterrichts ausmachen sollte. Ein Grossteil der Unterrichtszeit sollte in komplexe Aufgabenbearbeitung investiert werden, wo die Schülerinnen und Schüler Probleme lösen, in Teams arbeiten und Produkte herstellen: Hands-on-Activities, wo sie herausgefordert werden sich selbst Wissen anzueignen.
Das geht ja digital und analog! Wo kommt denn jetzt das Digitale hinzu? Muss das Lernen vielleicht gamifiziert werden?
Digitale Technologien sollten erstens überall da benutzt werden, wo sie einen Mehrwert bieten, zweitens da, wo es einfach die gängigen Werkzeuge sind, die man in unserer Kultur braucht. Wenn es in der Hochschule und Arbeit üblich ist, dass man sich eher Mails als Briefe schreibt, dann sollte man sich auch in der Schule tendenziell mehr Mails schreiben, damit Schülerinnen und Schüler in den kulturell üblichen Praktiken sozialisiert werden. Drittens geht es darum, mit Schülerinnen und Schülern auch kritisch über die Wirkungen und Nebenwirkungen von digitalen Technologien nachzudenken.
Aus meiner Forschung zum Lernen mit Computerspielen kann ich sagen, dass es ganz stark darauf ankommt, wie gut diese Spiele gemacht sind und wie gut sie im Unterricht eingebettet sind. Man muss sich einfach von der Vorstellung verabschieden, dass etwas, immer wenn wir es digital machen, automatisch besser wird. Es kommt auf die Qualität der eingesetzten Medien an, auf die Qualität der didaktischen Begleitung, auf die Lernaktivitäten und die Reflexion darüber. Erst wenn das alles zusammenspielt, kommt am Schluss wirklich besseres Lernen heraus. So kann man auch relativ einfach gemachte digitale Technologien unglaublich gut im Unterricht einsetzen. Wenn Schülerinnen und Schüler gewohnt sind, so zu arbeiten, dann kann das hochproduktiv sein.
Nennen Sie uns ein Spiel, das sich im Unterricht zu behandeln lohnt.
Bei Minecraft gab es eine Mondsimulation, wo man so ein bisschen rumhopsen konnte. Ein Physiklehrer hat dann seinen Schülern den Auftrag gegeben herauszufinden, ob die Simulation der tatsächlichen Schwerkraft auf dem Mond entspricht. Da mussten die Schülerinnen und Schüler dann Messreihen erstellen und versuchen herauszufinden, ob das der Realität entspricht. Digitale Medien sind hier nicht einfach Wissensvermittler, sondern Experimentierumgebung und kreatives Werkzeug.
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