All for one – der Wahlkurs „Musical“ hält zusammen

Text und Bilder von Isabel Schär, 4IS

Aula Polyfeld, Muttenz. «Let’s slay someone!» Mit diesen Worten teilt Karolina Kowalska den Teilnehmern und Teilnehmerinnen mit, dass nun das Aufwärmen beginnt. In zwei Gruppen werden Kreise gebildet. Die Nachmittagssonne wirft lange Schatten in den weitläufigen Raum, während die Schüler mit lauten Kampfschreien loslegen. Die Regeln kennen alle bereits. Wer einen Fehler macht, muss sich umbringen.

Es sind Einblicke in einen ganz besonderen Wahlkurs des Gymnasiums Muttenz. Jeden Mittwochnachmittag arbeiten 19 Gymnasiasten und Gymnasiastinnen in der Aula Polyfeld in Muttenz an ihrem gemeinsamen Ziel: Auf der grossen Bühne zu stehen und ein Musical aufzuführen. In der spielerischen Aufwärmphase zu Beginn der drei Nachmittagslektionen bekommen die Schüler und Schülerinnen die Gelegenheit, an ihren schauspielerischen Fähigkeiten zu arbeiten: Wird beim Ninja-Spiel beispielsweise ein Fehler gemacht, ist die Kreativität der betroffenen Person gefragt. Es gilt, möglichst überzeugend einen Selbstmord darzustellen, idealerweise auf eine Art, die vorher noch niemand dargestellt hat. In weiteren Aufwärmspielen üben die Teilnehmer und Teilnehmerinnen des Wahlkurses, möglichst viel Aufmerksamkeit zu erregen und auf verschiedene Arten durch den Raum zu gehen. Wie der Grossteil des Musical-Wahlkurses wird auch das Aufwärmen auf Englisch geleitet, da es sich um einen interdisziplinären Kurs der Fächer Musik und Englisch handelt.

Den Wahlkurs «Musical» gibt es erst seit 2017. Damals noch «Musical Theatre Course» genannt, wurde er von drei musik- und theaterinteressierten Lehrpersonen des Gymnasiums Muttenz ins Leben gerufen: Christoph Huldi, Karolina Kowalska und Franziska Baumgartner. Den Anstoss dazu gab Herr Huldi, denn seiner Meinung nach fehlte dem Gymnasium noch vor fünf Jahren ein Theaterkurs, der viele Schüler und Schülerinnen anspricht. Mit dem Theater-Freifach habe das damals nicht funktioniert. Da für ihn Theater etwas sehr Wichtiges und Lehrreiches ist, bemühte er sich, für seine Idee ein passendes Unterrichtsgefäss zu finden. Es ergab sich dann in Zusammenarbeit mit Frau Kowalska und Frau Baumgartner die Idee eines Wahlkurses, welcher Musik und Theater verbindet. Der Kurs konnte im Herbst 2016 erstmals ausgeschrieben werden.

«Theater ist so etwas Tolles und Wichtiges. Man kann unglaublich viel lernen dabei.» Christoph Huldi

Bisher wurden im Rahmen des Wahlkurses drei Musical-Produktionen auf die Bühne gestellt. Jedes Jahr fanden sich viele engagierte und talentierte Gymnasiasten und Gymnasiastinnen, welche bereit waren, selbst auf die Bühne zu stehen, zu schauspielern, zu singen und zu tanzen. Die meisten Kursteilnehmer bringen wenig bis gar keine Musicalerfahrung mit. Dies sei auch keineswegs die wichtigste Voraussetzung für die Teilnahme am Wahlkurs. Es brauche vielmehr Freude und Engagement, da sind sich die leitenden Lehrpersonen einig. Der Musical-Wahlkurs braucht weit mehr Zeit als die im Stundenplan vorgesehenen drei Stunden am Mittwochnachmittag. Dies müsse den Schülern bewusst sein, wenn sie sich für den Kurs einschreiben, sagt Frau Kowalska. Obwohl in den drei Wahlkurslektionen meist ohne Pause durchgearbeitet wird, kommt es oft vor, dass die Schüler und Schülerinnen nach Schulschluss noch etwas länger bleiben müssen.

«Es ist natürlich schön, wenn jemand super singen und tanzen kann, aber das Wichtigste ist, die Freude und die Bereitschaft hart zu arbeiten.» Karolina Kowalska

Auch diese Woche gibt es viel zu tun. Nachdem sich alle schauspielerisch aufgewärmt haben, werden Stühle geholt und in einem Halbkreis aufgestellt. Jetzt geht es nämlich ans Singen. Herr Huldi leitet die Probe der Company-Songs, angefangen mit «Seize the day». Der Song beginnt ruhig und langsam. Christoph Huldi spielt die Klavierbegleitung. Der Wind bewegt leicht die Jalousien und Thomas Jäschke beginnt zu singen. Es ist eines seiner Soli als Davey Jacobs. Lenard Fasnacht setzt ein, kurz darauf auch die Company. Die Stimmen erfüllen den Raum, immer wieder unterbrochen von klavierbegleiteten Sprechsequenzen. Oft unterbrechen auch Herr Huldi oder Frau Kowalska, um zu verbessern und zu kritisieren. Während Frau Baumgartner mit einzelnen Solisten probt, feilen die beiden an den Company-Songs, denn diese müssen sitzen, wenn sie im Verlaufe des Schuljahres mit den Schauspielszenen verbunden werden. Der Gesang erfordert viel Kraft. Im Moment klinge es noch viel zu schön, findet Herr Huldi. «Könnt ihr das auch etwas frecher?» Die Schüler und Schülerinnen spielen eine Gruppe streikender Zeitungsjungen und diesen geht es vor allem darum, von den Leuten gehört zu werden: «Strike, Strike, Strikestrikestrikestrikestrike- strikestrikestrike oooooooooooooh Strike!»

«Strike» ist der Name der diesjährigen Produktion des Wahlkurses. Es ist eine Version des Disney-Musicals «Newsies». Dieses basiert auf einem Film, welcher in Anlehnung an den Streik der New Yorker Zeitungsjungen von 1899 gedreht wurde. «Newsies» heissen in Amerika die Newsboys, also die Zeitungsjungen, welche vor allem im 19. und in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts in den Strassen der grossen Städte unterwegs waren. Die Kinder (vereinzelt waren es auch Mädchen), bezogen ihre Zeitungen von den Verlagen, verkauften sie teurer an die Leute und konnten so jeden Tag einen kleinen Profit machen. Besonders für den Verkauf der Nachmittagsausgaben waren sie unentbehrlich. Newsies hatten es nicht leicht. Oft mussten sie bis spät in die Nacht hinein arbeiten. Wenn sie es nicht schafften, bis zum Abend all ihre Zeitungen zu verkaufen, hatten sie umsonst Geld dafür ausgegeben und dementsprechend weniger Profit.

Während des spanisch-amerikanischen Krieges war die Bevölkerung versessen auf Neuigkeiten. Das Zeitungsgeschäft boomte. Aus diesem Grund erhöhten die Zeitungsverlage den Preis für ein Hunderterpaket Zeitungen von 50 Cent auf 60 Cent. Die Newsies mussten nun mehr bezahlen, aber konnten ihre Zeitungen trotzdem nicht teurer verkaufen. Während des Krieges reichte ihr Verdienst dennoch fürs Überleben, da sie von der grossen Nachfrage nach Zeitungen profitierten. Als der Krieg vorbei war, nahm im Sommer 1899 die Nachfrage rasant ab und die meisten Verlage verkauften ihre Zeitungen wieder zum ursprünglichen Preis von 50 Cent an die Newsies. Die beiden Zeitungsverleger Joseph Pulitzer (New York World) und William Hearst (New York Journal) beschlossen jedoch, den Preis für ihre Zeitungen bei 60 Cent zu belassen. Als grösste Zeitungsverleger New Yorks dachten sie, die Newsies würden ihnen die World und das Journal wohl oder übel trotzdem abkaufen müssen. Sie hatten die Kinder unterschätzt. Im Juli 1899 begann ein zweiwöchiger Streik gegen die beiden Verlage.

Das Musical «Newsies» erzählt die Geschichte dieses Streiks, wobei es sich an den Begebenheiten von 1899 anlehnt, diese jedoch nicht faktengetreu wiedergibt. Anders als der echte Pulitzer behält derjenige aus dem Musical nicht einen zuvor erhöhten Preis von 60 Cent bei, sondern erhöht zu Beginn des Musicals den Preis auf 60 Cent, was den Streik auslöst.

«Newsies» wurde für eine vorwiegend männliche Company geschrieben. Die Wahlkursleitung musste deswegen einige Änderungen vornehmen, denn der Grossteil der Gruppe besteht aus Mädchen. So ist es nun nicht mehr Mr. Joseph Pulitzer, sondern Mrs. Pulitzer (gespielt von Laura Brecht), der die Newsies den Kampf ansagen. In weiteren Hauptrollen spielen Lenard Fasnacht (Jack Kelly, Anführer der Manhattan-Newsies), Thomas Jäschke (Davey Jacobs, Manhattan-Newsie) und Stephanie Ebner (Katherine Plumber, junge Reporterin).

Es kommt wieder Bewegung in die Teilnehmer und Teilnehmerinnen des Wahlkurses. Das Rascheln von Papier ist zu hören, als ein kurzer Blick ins Skript geworfen wird. In lockerer Formation stellen sich die Schülerinnen und Schüler auf, um im letzten Teil der heutigen Musicalprobe noch zu schauspielern:

Eine erschütternde Nachricht für die Newsies: Ab sofort müssen sie für ein Hunderterpaket von Pulitzers World 60 Cent bezahlen. Unruhe breitet sich unter den Kindern aus. Ihr Anführer Jack Kelly überlegt, was nun zu tun ist.

Szenenwechsel: Die Manhattan-Newsies treffen sich im Jacobi’s Deli, ihrem Stammrestaurant, und beschliessen, auch die Newsies der anderen Stadtteile für ihren Streik zu mobilisieren. Katherine Plumber taucht auf.

Etwas später: Der Streik ist nun in vollem Gange. Crutchie, ein Newsie mit Krücken (gespielt von Julia Kunz), sucht nach Jack, als er von den Delancey-Brüdern (Hoàng Tho Dang und Moritz Kunz) zu Boden gestossen wird.

Pulitzers Büro: Pulitzer erhält wütende Anrufe wegen des Streiks. Jack kommt vorbei, um zu verhandeln.

Diese bruchstückhaften Einblicke in die Handlung des Musicals reichen nicht aus, um sich die fertige Aufführung wirklich vorstellen zu können. Die Wahlkursgruppe befindet sich im Moment erst in den Anfängen des Schauspiels, zuvor wurden fast nur Company-Songs geübt. Dazu kommen die Einflüsse der Pandemie: Seit den Sommerferien gilt Maskenpflicht, was die schauspielerischen Möglichkeiten erheblich einschränkt. Proben mit Maske sei deswegen so problematisch, weil es fürs Leiten der Schauspielproben wesentlich wäre, die Gesichter der Schülerinnen und Schüler zu sehen, erklärt Frau Kowalska. Auch Frau Baumgartner ist besorgt. Die Distanzregeln, die ebenfalls seit den Sommerferien gelten, findet sie sehr einschneidend. Wenn man mit einer neu zusammengewürfelten Gruppe loslege, sei es wichtig, dass die Leute lernten, zusammen zu funktionieren.

«Es gibt nichts Wichtigeres, als dass eine Company auf Tuchfühlung geht. Das war am Anfang schwer zu spüren.» Franziska Baumgartner

Die letzten Monate waren für das Leitungsteam des Wahlkurses sehr belastend. Jede Woche musste man sich auf allfällige Einschränkungen einstellen, die mühseliges Umplanen mit sich zogen und die Durchführung der Musical-Aufführungen gefährdeten. Aufgegeben wurde das Musical noch nicht. Alle Beteiligten hoffen darauf, die Aufführungen trotz allem durchführen zu können, jedoch sollen sie von März auf Juni verschoben werden.

Warum der diesjährige Musical-Wahlkurs etwas ganz Besonderes ist, hat Frau Baumgartner treffend zusammengefasst:

«Es geht im Moment darum, möglichst Abstand zu nehmen von allen. «Strike» ist das Gegenteil: Halten wir zusammen, wir schaffen zusammen etwas!» Franziska Baumgartner

Noch nie zuvor gab es ein Wahlkursmusical, welches so sehr auf die Gruppendynamik angewiesen war wie «Strike» und ausgerechnet dieses Jahr ist die Zeit des Social Distancing.

«All for one». Während der Rest der Welt auf Abstand geht, behalten die Wahlkurs-Newsies ihr Gemeinschaftsgefühl bei, denn sie können nur dann etwas erreichen, wenn jeder Einzelne für das gemeinsame Ziel einsteht.