
von Brigitte Jäggi, Rektorin (Fotos: Nu)
«Die Gegenwart einer Krise geht immer mit einer neuen Zukunft schwanger.» Markus Gabriel, deutscher Philosoph, 2020
Erinnern Sie sich? Vor nicht allzu langer Zeit war das Verhüllungsverbot in aller Munde. Man konnte sich mit den Unterschieden zwischen dem Niqab, dem Tschador und der Burka beschäftigen und inwieweit ein Schleier das ganze Gesicht oder nur einen Teil verhüllen durfte oder gar nicht. Und an welchen Orten im Land man ein Verbot anstrebte und wo das Verbot Wirklichkeit wurde. Nicht ganz unlogisch, dass gerade dort, wo kaum mit einer verhüllten Frau zu rechnen war, am ehesten ein Verbot gefordert wurde. So geschehen im Kanton Tessin. Tatsächlich ist es seit der Einführung des Verhüllungsverbots dort kaum je zu einer Busse gekommen. Möglicherweise waren damit die wenigen, die den Süden der Schweiz besuchen wollten, abgeschreckt. Schöner ist jedoch die Anekdote, dass in arabischen Ländern die Reiseempfehlung gemacht wurde, man solle in den verbotenen Zonen der Schweiz doch anstelle des Schleiers eine Hygienemaske tragen.
Wer hätte Anfang dieses Jahrs gedacht, dass wir am Ende desselbigen mehr oder weniger freiwillig alle mit Hygienemasken unterwegs sein würden! Dass man am Bankschalter oder beim Behördengang nicht aufgefordert würde, sein Gesicht zu enthüllen, sondern ja verhüllt zu bleiben. Bei der Bahnreise scheinen die Zugbegleiter*innen trotz teilverhülltem Gesicht die Fähigkeit entwickelt zu haben, den rechtmässigen Besitzer eines Swisspasses korrekt zu identifizieren.
Wer hätte Anfang dieses Jahres gedacht, dass man beim Gähnen in der Öffentlichkeit die Hand nicht mehr zum Mund führen würde? Wer hätte gedacht, dass der Handschlag nach zweitausend Jahren abgeschafft sein würde (in Therwil etwas früher)? Oder dass wir uns beim Begrüssen und Verabschieden nicht mehr gutschweizerisch dreifach küssen würden?
Manchmal geht es plötzlich sehr schnell. Das zeigt die Fähigkeit einer Gesellschaft (oder zumindest ihre Mehrheit), angesichts einer Bedrohung zu reagieren. Wem fehlt der Handschlag wirklich? Was bis vor Kurzem eine Geste der Höflichkeit war, erweist sich als ein Ritual, das zu Zeiten einen gewissen Sinn hatte, als man damit zeigen wollte, keine Waffe in seiner rechten Hand zu tragen.
Die Maske ist in und vor allem vor aller Munde. Die quasi flächendeckende Tragpflicht mag eine Einschränkung sein, nimmt einem aber auch zusehends die Mühe ab, zu überlegen, ob man hier muss und dort nicht. Und niemand braucht sich dafür zu schämen, eine zu tragen, da alle anderen es eben auch müssen. Wir sind eine maskierte Solidargemeinschaft geworden. Hoffen wir dennoch nicht, dass dies ewig so bleiben wird. Wenn die Solidargemeinschaft auch ohne Maske überlebt, dann hat die Krise wenigstens hier ihren Sinn gehabt.

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