Freie Sicht nach Venedig

Im Dreispitz-Areal befindet sich das WORTSTELLWERK. Es bietet Jugendlichen bis 25 Jahren Räume und Angebote zum Schreiben. Die beiden Leitenden, Daniela Dill und Hannes Veraguth, berichten von der Idee und Geschichte dieses «Jugendschreibhauses».

von Timo Kröner (Text und Bilder)

Auf dem Weg zum WORTSTELLWERK fühle ich mich, als ginge ich auf eine grosse Reise: Ich radle die Frankfurt-Strasse entlang, überquere die Strasse nach Lyon und bin am Ende in der Venedig-Strasse vor einem alten, zweistöckigen Fabrikgebäude. Die Wände bestehen aus silbernem Wellblech, die breiten Fensterrahmen sind knallrot, haben aber eine Patina aus Blütenstaub und von der Hitze aufgeplatztem Lack. Neben der Türe hängt auf der Höhe der Klinke eine metallene Aschenbecherbüchse mit Plastikdeckel, wie sie eben früher in Fabriken hing. Die Türe selbst ist bunt von Plakaten und Klebern und gleicht damit den Laternenpfosten rings herum. Als ich versuche, ein Foto davon zu machen, muss ich ständig Kleintransportern und Autos ausweichen, die zu den unzähligen Firmen, Werkstätten und Shops in den umliegenden Strassen fahren.

Doch im Inneren dieser Halle empfängt mich eine ganz andere Welt. Als ich mit Hannes Veraguth und Daniela Dill die Räumlichkeiten des WORTSTELLWERKs betrete, stehen wir in einem kleinen Bühnenraum. Die Fenster bilden eine schmale, durchgehende Reihe direkt unter der Decke und erhellen den Raum von oben. Eine selbst gebaute Bühne aus Paletten wird von einem alten Teppich bedeckt, auf dem ein Mikrofon steht. Eine Tafel dient dazu, die Namen der Auftretenden oder das Programm des Abends anzuschreiben. Gegenüber der Bühne stehen Sitzkisten aus Sperrholz an der Wand, auf denen bunte Stoffkissen liegen. Hier werden die Texte präsentiert, die in den Workshops im WORTSTELLWERK entstehen.

Der «helle Raum» und der «Harry Potter-Raum»

Und diese Workshops finden in den verwinkelten Räumlichkeiten statt, in denen wir unser Gespräch führen. Neben dem Veranstaltungsraum liegen zwei Schreibräume. Hier können die Jugendlichen arbeiten. Der «helle Raum» ist ganz in Weiss gehalten, von der Decke hängen Papierkugellampen. Ein Megafon ist mit der lauten Seite auf der Fensterscheibe angebracht und schaut nach draussen. Im Rahmen eines digitalen Rundgangs ertönt daraus die Klangspur eines Postens durch die Scheibe auf die Strasse. Im «Harry Potter-Raum» steht eine Schreibmaschine mit Typenstäben auf einem alten Tisch, die Wände sind in dunklem Bordeaux-Rot gehalten und treffen auf einen hölzernen Boden. Wir führen unser Gespräch in der Wohnküche, in einer Ecke hängen mehrere rot-gelbe Hängematten. Hier also entstehen Geschichten, Hörspiele, Cartoons, Slam-Texte.

Die Christoph-Merian-Stiftung hat das Gebäude und ein Budget zur Verfügung gestellt, damit Daniela Dill und Hannes Veraguth darin das WORTSTELLWERK gründen und betreiben können. Die Sitzung, an der die Gründung des WORTSTELLWERKs beschlossen wurde, ist nun drei Jahre her. Vor der Eröffnung am 8. Februar 2019 haben die beiden Leitenden des WORTSTELLWERK zuerst die Räume gestaltet, meist selbst und in Handarbeit, damit viel Geld für die Workshops und Autor*innen bleibt, die die Jugendlichen bei ihren Schreib- und Textgestaltungsprojekten begleiten. «Es ist wichtig, dass die Autor*innen aus ihrer eigenen Schreib- und Lebenspraxis den Jugendlichen etwas mitgeben,» betont Hannes Veraguth. «Nur so können sie Vorbild sein, als Menschen, die vom Schreiben leben.» Als ich das Wort «Ausbildung» benutze, widerspricht er vehement: «Ausgebildet werden Autor*innen am Schreibinstitut in Biel. Wir sind keine Schule, wir sind ein junges Schreibhaus.»

Keine Noten, sondern Unterstützung

Daniela Dill betont den Unterschied zur Schule: «Die Jugendlichen bekommen für ihre Texte keine Noten, sondern Unterstützung.» Deshalb achten die beiden bei der Ausschreibung von Workshops auch darauf, dass sie für ein junges Publikum interessant sind. Im März und April 2021 findet der Kurs «Female Rap» mit der Rapperin La Nefera statt, in dem auf Spanisch, Deutsch und Englisch geschrieben und gerappt werden kann. «Mit Rap können wir die Jugendlichen abholen,» sagt Daniela Dill. La Nefera ist auch Mitglied von «Helvetia rockt», und so hofft Daniela Dill, dass durch solche Angebote junge Frauen sich stärker und mutiger in der Szene äussern können. Angebote in verschiedenen Sprachen sollen auch Jugendliche mit anderen Muttersprachen als Deutsch ansprechen.

Doch die Geschichte hat schon lange vor dem Basteln der Inneneinrichtung begonnen. Nathalie Unternährer von der Kulturabteilung der Christoph-Merian-Stiftung hatte schon länger die Idee mit sich herumgetragen, eine Schreibschule für Jugendliche, ein «Jugendschreibhaus», zu gründen. Sie sollte ähnlich der Musikschule oder dem K-Werk, eine Bild-Schule für Kinder und Jugendliche an der Hochschule für Gestaltung, Jugendliche an das Verfassen von Texten oder Sprachkunstwerken heranführen. Diese Idee fiel auf fruchtbaren Boden und in die Hände engagierter Leute. Mit Unterstützung des Basler Autors Guy Krneta übernahmen Daniela Dill und Hannes Veraguth das Projektmanagement für das WORTSTELLWERK. Beide bringen reichlich Erfahrung im Bereich Literaturvermittlung mit. Daniela Dill hat als freischaffende Künstlerin und Spoken-Word-Autorin ein grosses Netz an Kontakten in die literarische Szene – und neben viel Textgestaltungserfahrung auch langjährige Erfahrung als Workshop-Leiterin. Hannes Veraguth hat als Lehrer am Gymnasium in Oberwil schon vielfältige Erfahrungen im Bereich Kultur- und Literaturvermittlung, sei es als Leiter des Theaterkurses oder als Organisator der Schreibförderung für literarisch begabte Schülerinnen und Schüler.

Immer die Jugendlichen im Blick

Dass das WORTSTELLWERK auf dem Dreispitz-Areal liegt, ist nicht Zufall, sondern eine geschickte Fügung. Auf dem Gelände werden zurzeit sehr viele verschiedene Ideen und kulturelle Konzepte verwirklicht. Neben Ablegern der Kunsthochschule gibt es dort neben Clubs für elektronische Musik das Haus der elektronischen Künste und vieles mehr. Das WORTSTELLWERK ist also nicht nur ein Ort für Kreativität, in dem die Sprache ein bisschen aus den Gleisen der traditionellen Schreibvermittlung gehoben wird, es befindet sich auch an einem äusserst kreativen Ort. So ist das Projekt in einem ständigen Wandel begriffen. Daniela Dill und Hannes Veraguth haben immer die Jugendlichen im Blick, wenn sie von ihrem WORTSTELLWERK sprechen. Neu beginnt mit Lena Käsermann nun eine junge Mitarbeiterin bei ihnen, mit der sie vermehrt Social-Media-Kanäle und junge Performance-Formen umsetzen möchten. Dass die Jugendlichen im Verein des WORTSTELLWERK auch Entscheidungen treffen können, soll das jugendliche Profil stärken. «Unser Vorbild ist dabei das Junge Theater Basel, wo die Jugendlichen sehr frei und autonom arbeiten können,» sagt Hannes Veraguth.

Doch nicht nur das Haus, auch das Angebot ist attraktiv, wenn zum Beispiel im Hörspielstudio des SRF Aufnahmen gemacht werden. Die Kurse wie das «Schreiben für die Bühne» mit Lucien Haug sind ausgeschrieben für 11- bis 25-jährige. Auch wenn beide betonen, dass das WORTSTELLWERK keine Schreibschule ist, gibt es verschiedene Angebote für Schulen – «À la Carte», bei denen das Team Autorinnen und Autoren für Workshops in Klassen vermittelt. Daneben können sich schreibbegeisterte Jugendliche, auch Schüler*innen mit literarischen Maturarbeiten oder selbstständigen Arbeiten, immer am Mittwoch bei dem/der «Weichenwärter*in» für ein kostenloses und unverbindliches Coaching melden. Im Moment sind Eva Seck und Frédéric Zwicker Weichenwärter*in. Das wichtigste Standbein bilden die Workshops im Haus, in denen die verschiedensten Formate bedient werden. Neben einem Cartoon-Workshop und einem Schreib-Workshop für Texte mit Andreas Neeser gibt es in Zusammenarbeit mit dem «Theater Süd» einen Workshop für Bühnentexte, «Schreiben für die Bühne» mit Lukas Linder und Christoph Oser-Meier.

Als ich diesen Wellblechklotz verlasse, weiss ich, dass ich meine Schülerinnen und Schüler sehr gerne hierherschicken möchte. Denn im Inneren dieser alten Fabrik öffnen sich allerhand Räume in verschiedene kreative Welten. Das liegt an der Gestaltung des Ortes, aber auch an der lebendigen Inspiration, die Daniela Dill und Hannes Veraguth ausstrahlen.

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