
Gemurmel und Geraschel. Es ist halb eins, der Vortrag sollte jetzt gleich beginnen. Es schwirren die letzten Besucher*innen hinein, nehmen sich einen Platz, legen ihre Taschen vor sich hin und warten gespannt auf die Präsentation und welche Erkenntnisse diese mit sich bringen wird.
„Von Königen in Strumpfhosen und willensstarken Frauen – die Geschlechterrollen früher und heute“- so heisst der Titel. Das Mikrophon hält Frau Reichel, sie stellt Frau Bürgi vor. Frau Bürgi – oder doch lieber Sophie, denn im ersten Moment schlägt sie vor, dass wir uns duzen – hat Gender Studies an der Universität Basel studiert und möchte uns nun einen Einblick geben in die Evolution der Geschlechterrollen, wie sie früher ausgesehen haben und wie sie so geworden sind, wie sie heute sind.
Von Gisele Plavsic (Fotos: Flavia Manella)
Sophie ist eine bisexuelle Frau und hat dadurch schon Benachteiligung erfahren. Sie hat sich oft die Frage gestellt, woher diese Ungleichheiten kommen. Woher stammen unsere Vorstellungen von Geschlechtern? Diesen Fragen gehen wir nun auf den Grund.
Sophie richtet ihr farbiges, geblümtes Hemd, räuspert sich und beginnt mit ihrem Vortrag. Auf dem ersten Slide zu sehen ist Louis XIV, der Sonnenkönig, in seiner pompösen Tracht, mit Stöckelschuhen, Strümpfen und endlos voluminösem Haar. Für uns eine eher untypische Verkörperung eines Mannes. Unbewusst kritisieren und hinterfragen wir diesen Anblick, alles „Neue“ kann abschreckend wirkend.
Zur Zeit des Feudalismus waren die äusserlichen Merkmale der Geschlechter der privilegierten, autokratischen Schicht ganz anders als heutzutage. Buben kleideten sich in extravaganten Röcken, mit beschmückten Kragen, langen Haaren und rosa, gepuderten Bäckchen – ein eher schräges Bild. Das Image der adligen Frauen war ausgeprägter. Sowohl optisch als auch gesellschaftlich waren sie nicht so stark eingeschränkt. Ihre Stellung in der Gesellschaft befand sich nicht nur unterhalb der Männer. Frauen in Führungspositionen waren kein ungewohnter Anblick. Sie herrschten über Völker, führten Kriege und ritten auf Rössern, bewaffnet mit Schwert und Säbel. Paradebeispiel: Jeanne d’Arc.



Geschlechter wurden früher nicht als zwei Pole betrachtet, Mann und Frau waren nicht so weit voneinander entfernt wie heutzutage. Es war zwar eine patriarchale Gesellschaft, aber inhaltlich war Geschlecht anders bestimmt. Die Geschlechter waren fluider. Früher wurde sogar geglaubt, dass Frau und Mann beide Penisse besitzen, diese doch bei den Frauen nach innen gekehrt sind. Falls die Frauen zu viel Hitze im Körper verspürten oder einen zu weiten Sprung wagten und ihre Beine spreizten, würde das Geschlechtsteil nach aussen treten und die Frau zum Mann werden.
Es gab also nur ein Geschlecht und somit waren die Geschlechterrollen weniger binär als heute. Es gab sogar Männer im Theater, die sich gar kastrieren lassen wollten, um die Rollen der Mädchen übernehmen zu können. Vom früheren Theater stammt auch der Begriff „DRAG“. „DRAG“ heisst „dressed as a girl“ und wurde erstmals von Shakespeare eingeleitet.
Da stellt man sich die Frage, was in den letzten 200 Jahren passiert ist, dass sich die Geschlechterverhältnisse dermassen veränderten. Welche historischen Ereignisse haben stattgefunden, die einen solchen Wandel bewirkten?
Die zwei Geschlechter – eine bürgerliche Erfindung
Vor ungefähr 200 Jahrhundert gab es enorme Umschwünge in den moderneren Zivilisationen, die Französische Revolution war bereits im vollen Gange und trug zur Verabschiedung der alten Gesetze und des monarchischen Systems bei. Die Menschen wollten sich von der Monarchie abgrenzen, sie forderten den Beginn moderner Demokratien. Die Aufklärung hatte die Erklärung der Menschenrechte zur Folge. Doch diese galten nur für Männer. Da das Bürgertum die herrschende Klasse war, bestimmten die Bürger über die Geschlechterrollen in der Gesellschaft. Doch warum genau setzten sich die bürgerlichen, heterosexuellen Männer als Norm? Das Abgrenzen des autokratischen, monarchischen Systems bedingte auch eine Abgrenzung der Männer gegenüber nicht heteronormativen Idealen, anderen Kulturen und vor allem gegenüber anderen Geschlechtern – den Frauen.
Ein weiterer Antrieb der Festigung dieser Geschlechterverhältnisse war die Industrialisierung. Heimarbeit war nicht mehr ertragreich genug, die Männer gingen schuften und die Frauen kümmerten sich um die Kinder, versorgten und hüteten sie.
Die Biologie der Geschlechter gewann immer mehr an Bedeutung. Schon Neugeborene wurden als männlich oder weiblich definiert und ihre Rollen in der Gesellschaft waren prädestiniert. Geschlechtsausdruck gestaltete sich binär. Es entstand eine Dualität von Mann und Frau; Geist und Körper, emotional und rational, offen und privat, stark und schwach. Diese Dualität wurde durch eine unterschiedliche Natur der Geschlechter begründet.
Eine grundsätzlich neue Darstellung von Männlichkeit nahm ihren Lauf. Männer kleideten sich in kastigen Anzügen. Umschmeichelnde Strümpfe, so wie Louis XIV sie getragen hatte, wurden nicht toleriert. Nun lag es aber an den Frauen ihre Weiblichkeit auszuleben, sich schön zu machen und aufzuhübschen und die Zärtlichkeit zu verkörpern. Der Grundsatz der Natur bestimmte die unterschiedlichen Geschlechter, sodass Männer, weil sie kräftiger und muskulöser gebaut sind als die Frauen, auch als klüger und ambitionierter eingestuft wurden, während Frauen als empathisch und als besonders emotionale Wesen betrachtet wurden, deren Körper nur für die Erzeugung eines Kindes nützlich sei.
Es formte sich eine fundamentale, qualitative Differenz zwischen beiden Geschlechtern. Trotzdem gehörten diese zwei Geschlechter unabdingbar zusammen. Das Ideal einer heteronormativen Familie, in der der Vater arbeiten geht und die Mutter zuhause auf die Kinder schaut, breitete sich aus.
Ab den 50er-Jahren setzte sich zudem das Bild der perfekten Hausfrau durch. Geworben wurde mit neuen Haushaltsgeräten, bestickten Küchenschürzen und der unbeschränkten Liebe des Mannes.
Der feministische Kampf gegen die Geschlechterverhältnisse
20 Jahre danach erfolgte die Einführung des Frauenstimmrechts. Frauen begannen sich zu bilden, sich in der Gesellschaft durchzusetzen und ihre Stimmen zu erheben. Ein bekannter Name in der feministischen Bewegung ist Emilie Kempin-Spyri. Sie war die erste Schweizer Juristin und kämpfte für das Wahlrecht der Frau. Auch wenn dazumal ihre Forderung vom Bundesgericht abgelehnt wurde, machte sie tausenden Frauen in der Schweiz Mut und warf ein Licht auf die Ungerechtigkeit des Systems gegenüber den Frauen. 70 Jahre nach Emilies Tod hatten die Schweizer Frauen ihr Ziel erreicht und das Wahlrecht für sich gewonnen.
Auch heute leben wir in einer bürgerlichen Geschlechterordnung und werden noch immer mit den Vorstellungen der idealen Geschlechterrollen konfrontiert. Feministische Organisationen wehren sich gegen dieses Konstrukt, gegen die Nachwirkung dieser festgelegten Geschlechterverhältnisse. Mehr und mehr Menschen möchten sich von diesem binären System verabschieden. Sie möchten ihre Identität selbst bestimmen und sich nicht einem Ideal hingeben müssen.
Mit diesem Schlusswort nimmt der Vortrag ein Ende. Sophie bedankt sich für unsere Aufmerksamkeit. Doch wir haben ihr zu danken für den spannenden Einblick in die Evolution der Geschlechterrollen, deren Hintergründe und Einflüsse auf unsere Gesellschaft heute.


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