von Bernhard Bonjour
SOL – die Sonne: Der Name ist so positiv, dass er für alle möglichen Dinge verwendet wird.
Im Baselbieter Schulbereich ist SOL der Name der „Schule für Offenes Lernen“. Sie steht in der Tradition der Reformpädagogik vom Beginn des 20. Jahrhunderts. Hier können Kinder und Jugendliche, die Schultraumata erlebt haben, sowie solche mit besonderen Bedürfnissen und sogenannte Hochbegabte das Lernen lernen, sich mit ihren Begabungen, Handicaps, Verletzungen und Ängsten auseinandersetzen und sich so selbstbestimmt und so vielfältig wie möglich um die Welt und das, was es in ihr zu lernen gibt, kümmern.
Jetzt ist der Begriff SOL auch in den Regelschulen angekommen, ausgedeutscht als „selbstorientiertes“ oder „selbstorganisiertes“ Lernen. Lernende zur Selbständigkeit zu führen, war natürlich immer schon das Ziel, und wenn es nur so verstanden wurde, dass der autoritäre Lehrer den Schülern all das beibringt, was sie nach der Schulzeit benötigen, um selbständig zu leben.
Vor vielen Jahren wurde durch Fachleute untersucht, inwiefern der Leitsatz, den unsere Schule damals schon hatte, dass nämlich das „Autonome Lernen“ gefördert werden solle, im Schulalltag tatsächlich umgesetzt werde. Unter anderem wurden in einem Evaluationsgespräch zwei Lehrer dazu befragt, die einen sehr ähnlichen Unterrichtstil pflegten. Der eine sagte, bei ihm gebe es ausschliesslich autonomes Lernen, denn er erzähle den Lernenden spannende Dinge und diese müssten – und dürften – dann autonom darüber nachdenken. Der andere bekannte, dass in seinem Unterricht unter den Bedingungen der Einzellektionen gar kein autonomes Lernen stattfinde, denn er lege das Thema fest, die Unterlagen, die Zeit, die Arbeitsformen, die Prüfungen. Die armen Evaluatoren kamen bei solch widersprüchlichen Definitionen zu keiner klaren Aussage, wie autonom die Schülerinnen und Schüler des Gymnasiums nun lernen.
SOL, wie es derzeit propagiert wird, verzichtet auf das hohe Ideal der Autonomie und präsentiert sich als ein relativ konkret formuliertes methodisches und organisatorisches Vorgehen. Viel Wert wird darauf gelegt, dass die Lehrpersonen die Aufgaben an die Schülerinnen und Schüler präzise formulieren und die Steigerung der Anforderungen an die Selbstorganisation systematisch planen. Der Widerspruch bleibt also: Wie kann eine Schule selbstorganisiertes Lernen der Schülerinnen und Schüler organisieren?
Klar ist: Selbstorganisiertes Lernen besteht nicht darin, dass die Lehrperson den Lernenden Unterlagen hinknallt und den Termin festlegt, bis zu welchem sie den Stoff zu lernen haben. Vorläufig scheint SOL auf den guten alten Projektunterricht herauszulaufen, was sehr zu begrüssen ist. Aber dürfen sich die Lernenden auch so selbst orientieren, dass sie die Ziele der SOL-Einheit in Frage stellen und sich alternative Ziele setzen? Dürfen sie dann die Erfahrung machen zu scheitern, ohne dass das mit schlechten Noten sanktioniert wird? Und: Dürfen sie aus der SOL-Phase Schlüsse ziehen, wie sie auch weiterhin lernen wollen? Aus pädagogischer Sicht bleibt die Frage, wie viele Risiken die Schule in Kauf zu nehmen bereit ist?
Das am schwierigsten zu überwindende Hindernis dürfte wie immer die Notengebung sein. Kann in einer Schule, welche die Selektion so stark ins Zentrum setzt wie die Staatsschule, welche also ständig überprüfen muss und entscheiden will, wer jetzt noch das Anrecht auf weitergehende Bildung hat und wer dieses bereits verwirkt hat – kann eine solche Schule die Selbstorientiertheit der Schüler fördern, die doch unter diesen Bedingungen ständig dazu gezwungen sind, sich in allererster Linie an der Notengebung zu orientieren?
Im Moment bemüht sich die Bildungspolitik in der Schweiz darum, die Prüfungen und die Notengebung und damit Lernziele und den Unterricht zu vereinheitlichen. Alles, was an Schulen geschieht, soll messbar und vergleichbar werden. Bildung wäre das Gegenteil: Sie setzt das Bewusstsein voraus, dass die Welt, das Nachdenken darüber und das, was man lernen und erkennen kann, vielfältig sind. Es gibt nie nur eine mögliche Weltsicht und eine mögliche Erkenntnis und eine richtige Antwort auf eine gescheite Frage. Es gibt vor allem nicht nur diese jeweils eine Frage, sondern man könnte immer auch ganz andere Fragen stellen. Bildung setzt Vielfalt voraus, im Moment wird die Einfalt forciert.
Man kann auch für SOL den Rahmen zu eng setzen, zuviel reglementieren und vor lauter Objektivierung der Notengebung das Spektrum des Möglichen wieder reduzieren. Wenn das geschieht, wird SOL zu einem aufwändigen Leerlauf. Dem Kollegium dieser Schule sind diese Gefahren glücklicherweise bewusst.
Wenn das Gymnasium Muttenz sich jetzt auf SOL einlässt und versucht, sich im Gestrüpp der Widersprüche einen Weg (und hoffentlich nicht einen, sondern viele Wege) zu SOL herauszuhauen, dann ist das mutig. Und es hat zumindest das Verdienst, sich dem Vereinheitlichungs-, Vergleichbarkeits- und Messbarkeitswahn der gegenwärtigen Bildungspolitik in die Quere zu stellen.