Martin Zimmermann ist Rektor der Kantonsschule in Wetzikon, an der seit 2004 das Konzept des Selbstlernsemesters (SLS) durchgeführt wird. Dabei lernen die Schülerinnen und Schüler während eines Semesters in mehreren Fächern selbstständig an eigenen Lernprojekten. Das Besondere dabei ist, dass der Klassenunterricht aufgelöst wird und die Lehrperson nicht mehr doziert, sondern vielmehr zur Lernberatung- und -begleitung der Lernenden wird.
Was in Wetzikon als Antwort auf eine Sparmassnahme im Kanton Zürich begonnen hatte, ist mittlerweile eine landesweit anerkannte pädagogische Pionierarbeit geworden. Selbstorganisiertes Lernen (SOL) wird beispielsweise im Kanton Bern an Gymnasien flächendeckend eingeführt. Die Kantonsschule Wetzikon ist Vorreiterin in der Umsetzung des Selbstorganisierten Lernens und auch Vorbild für unser Gymnasium. An der Schulinternen Weiterbildung (SchiWe) im Februar 2014 war eine grössere Delegation von Lehrpersonen dort, um sich mit dem Selbstlernsemester auseinanderzusetzen.
Ausgehend davon haben Daniel Nussbaumer und Timo Kröner mit Herrn Zimmermann ein Interview über das SLS geführt, das in Muttenz im Schuljahr 2016/17 erstmals stattfindet.
Unser Gymnasium in BL dauert jetzt vier Jahre und nicht mehr dreieinhalb. Das ist mehr Zeit für Bildung. Was soll man den Lernenden in dieser dazukommenden Zeit mitgeben?
Vielleicht sollte man ihnen gar nichts mitgeben wollen. Man müsste den Lernenden aber ermöglichen, sich etwas zu holen, indem man sie Erfahrungen machen lässt.
Was sollen Lernende Ihrer Meinung und Erfahrung nach grundsätzlich aus dem Gymnasium mitnehmen? Dient das SLS diesem Anliegen?
Selbstverständlich steht das Ziel Hochschulreife im Zentrum, aber mir scheint, man müsse immer wieder den Zweckartikel des MAR zitieren: „Ziel der Maturitätsschulen ist es, Schülerinnen und Schülern im Hinblick auf ein lebenslanges Lernen grundlegende Kenntnisse zu vermitteln sowie ihre geistige Offenheit und die Fähigkeit zum selbstständigen Urteilen zu fördern. Die Schulen streben eine breit gefächerte, ausgewogene und kohärente Bildung an, nicht aber eine fachspezifische oder berufliche Ausbildung. Die Schülerinnen und Schüler gelangen zu jener persönlichen Reife, die Voraussetzung für ein Hochschulstudium ist und die sie auf anspruchsvolle Aufgaben in der Gesellschaft vorbereitet. Die Schulen fördern gleichzeitig die Intelligenz, die Willenskraft, die Sensibilität in ethischen und musischen Belangen sowie die physischen Fähigkeiten ihrer Schülerinnen und Schüler.“
Um Reife zu erlangen, muss man – wie gesagt – Erfahrungen machen. Die Schülerinnen und Schüler sollen Dinge ausprobieren, scheitern, erfolgreich sein, Frustrationen erleiden und Erfolgserlebnisse geniessen können. Im SLS, wie ich es mir vorstelle, gesteht man ihnen diese Möglichkeiten zu. Sie werden bis zu einem gewissen Punkt aus der Obhut der Lehrpersonen entlassen.
Das SLS ermöglicht (laut Ihrem in der didaktischen Fachwelt bekannten Aufsatz) ein anderes Bildungserlebnis als der Normalunterricht sowie eine fachliche Vertiefung. Können Sie uns das an einem besonders augenfälligen Beispiel illustrieren?
Eine Schülerin, die aus einer nicht-akademischen Familie stammt, sagte mir nach einem SLS, sie hätte die Erfahrung gemacht, dass sie „das“ könne. Gemeint war die selbständige Arbeit, die sie zu erledigen hatte. Gemeint war aber auch die Arbeitsweise, die an einer Hochschule üblich ist. In diesem Fall war das Bildungserlebnis die Stärkung des Selbstvertrauens. Heute ist sie Assistentin an einer Universität.
Ein anderes Beispiel wären die Schülerinnen, die sich im SLS mit dem nahe der KZO gelegenen Übersetzerhaus Looren in Verbindung setzten. Sie konnten ihre eigenen Übersetzungsversuche mit Profis besprechen. Da sahen sie sich plötzlich mit Kriterien konfrontiert, die im Arbeitsleben gelten.
Wie verändert sich der Unterricht in solch einem neuen Lernarrangement?
Die Lehrperson übergibt einen Teil der Planung den Schülerinnen und Schülern, sie werden nicht mehr an der Hand geführt. Damit sind sie auch verantwortlich dafür, dass sie das Pensum erfüllen. In diesem Sinn dürfen sich die Lehrpersonen auch entlastet fühlen.
Wie verändern sich dabei die Rolle der LP und die Interaktion zwischen SuS und LP?
Damit eine gute Interaktion entsteht, muss die Beziehung geklärt sein, dann sollten möglichst die Lernenden Fragen stellen und nicht die Lehrer wie häufig im fragend-entwickelnden Unterricht.
Durch die Mail-Kommunikation entsteht gelegentlich auch ein ganz spezieller Austausch. Man diskutiert hin und her, und dabei entsteht eine Situation, die man sonst in der Schule in dieser Intensität nicht kennt.
Wo lernt man und wie kommuniziert man beim SLS? Welche Erfahrungen haben Sie damit gemacht?
Häufig gehen die Jugendlichen nach Hause, um einzeln oder in Gruppen zu arbeiten. Selbstverständlich gibt es auch diejenigen, welche in der Mediothek arbeiten. Das hängt wohl von Charakter und Gruppendynamik ab.
Wie muss eine Schule ausgestattet sein, damit ein SLS für alle Beteiligten erfolgreich verläuft?
An dieser Schule sollten möglichst viele neugierige Menschen leben. Die Infrastruktur ist zweitrangig.
Wie unterscheidet sich die Umsetzung eines SLS in den verschiedenen Fächern. Wie sehen etwa selbstorganisierte naturwissenschaftliche Projekte aus?
In gewissen Fächern sind die Vorgaben wohl enger, das heisst, die Lernenden arbeiten sich durch ein Skript. In den Naturwissenschaften können dann auch Experimente eine Rolle spielen. Die Physiker bereiten zum Beispiel gefahrlose Versuchsanordnungen vor, mit denen dann an einem freien Nachmittag experimentiert werden kann.
Was ist der Beitrag der SuS für das Gelingen eines SLS?
Sie müssen die minimalen Anforderungen erfüllen, und idealerweise gehen sie in mindestens einem Fach noch weiter und vertiefen einen Aspekt, der sie speziell interessiert. Wenn sie in allen Fächern minimalistisch die Anforderungen erfüllen, kann das enttäuschend sein. Aber ich habe auch schon erlebt, dass gute Schüler in dieser Zeit dafür sehr viel Klavier geübt haben oder ein anderes Hobby gepflegt haben. Das muss nicht schlecht sein für die Entwicklung dieser Jugendlichen.
Welche Bedeutung hat das selbstorganisierte Lernen in der Lernbiografie der SuS und für ihren späteren Bildungs- und Berufsweg?
Das weiss ich nicht, aber immerhin stelle ich fest, dass bei den sogenannten Ehemaligenbefragungen (zwei Jahre nach Matur) viele Bemerkungen stehen, die das SLS positiv als Studienvorbereitung erwähnen.
Wirtschaft und Universitäten fordern immer wieder mehr Selbstständigkeit von den SuS. Inwiefern entspricht das „Selbst“ in SLS dem?
Leider sind die Hochschulen in den letzten Jahren ja deutlich „verschult“ worden. Ein relativ freies Studium, wie ich das selber vor 30 Jahren erlebt habe, gibt es wohl nicht mehr. Vielleicht fördert das SLS vor allem die für ein Studium nach wie vor nötige Frustrationstoleranz, das Beharrungsvermögen und den Sinn für längere Zeiträume zwischen Lernen und Geprüft-Werden.
Wenn Sie selbst eine Schule mit eigener Stundentafel und pädagogischer Konzeption einrichten könnten – wie würde an dieser gelernt?
Mir scheint, man müsste bei einer Neukonzeption der Schule ganz stark darüber nachdenken, was die heutige Verfügbarkeit des Wissens bedeutet. In welcher Art kann die riesige Wissenshalde Internet sinnvoll verwendet werden? Diesen Aspekt darf man aber auch nicht überschätzen. Manchmal scheint mir, der Instrumentalunterricht könnte als Paradigma gelten: Instruktion durch eine Fachperson und dann üben, sinnvoll üben, über das Üben nachdenken und allenfalls die Übungsformen verändern, ausprobieren, wie man am besten Fortschritte macht. Dieses ganz natürlich verinnerlichte Arbeiten am eigenen Lernprozess findet in der traditionellen Schule wohl zu wenig statt.