Gehalten am 19. Dezember 2014 im Kultur- und Sportzentrum Pratteln
Liebe Maturandinnen und Maturanden
Geschätzte Anwesende
In diesem Gymnasium haben Sie gelernt, sich eine Meinung zu bilden – so war es für mich nicht. Ich erinnere mich an die eigene Gymnasialzeit in Zürich, da hatte man keine Meinung zu haben. Uns wurden Meinungen verpasst. Heute sind Gymnasien nicht mehr so starr, wie das einmal so war, und dass man diese Starre überwunden hat, ist eine Errungenschaft.
Ihre Lehrerinnen und Lehrer haben für Sie die Voraussetzung geschaffen, dass Sie sich die eigene Meinung bilden können, ohne Ihnen eine Meinung aufzuzwingen. Aber: Was ist Meinung?

Ich habe dafür eine sehr einfache Definition. Meinung ist: „So sehe ich das.“ In diesem Satz „So sehe ich das“ steckt ein Wahrheitsanspruch, denn auf jede Person und auf jeden Gegenstand kann man sehr verschiedene Blicke werfen.
„So sehe ich das“ besagt sogleich, man kann es anders sehen. Man darf es anders sehen. Es ist gut, wenn andere anders und anderes sehen als ich. Vor geraumer Zeit war ich an einer internationalen Konferenz und ein Teilnehmer aus Tschechien begann seine Aussage mit dem schlichten Satz: „Ich komme aus Prag, und von Prag aus sehe ich die Sache so.“ Das hat mir gefallen. Von Anfang an signalisierte dieser Tscheche, es gebe auch andere Perspektiven. „Von meiner Warte aus sehe ich das so“ – ein schöner Satz!
Der grosse französische Denker und Aufklärer Voltaire sagte einmal: „Ihre Meinung teile ich nicht, aber ich würde kämpfen und notfalls sterben, damit Sie Ihre Meinung bekunden können.“ Dafür eintreten, dass einer, der eine ganz andere Meinung vertritt als ich, sie auf jeden Fall äussern darf – das ist stark! Darauf baut unsere Demokratie, und sie wird schlecht, wenn der Gegner plötzlich zum Feind gestempelt wird oder sogar zum Landesverräter, nur weil er eine andere Meinung hat als ich.
Wer andere Meinungen gelten lässt, ist nicht nur offener, neugieriger, interessanter und bleibt länger jung, weil neugierige Leute, die auch nach der Schulzeit immerzu Neues aufnehmen, im Alter frisch bleiben – wer andere und anderes gelten lässt, wird auch überzeugender, denn DIE absolute Meinung gibt es nicht. DIE absolute Meinung ist im Grunde die falsche Meinung.
Gefährlich sind die Leute, die sagen: „Ich sage Ihnen die Wahrheit.“ Selbstverständlich gibt es auch triftige Meinungen, ein Dreieck kann ich nicht als Quadrat sehen – oder eben doch? Sehen Sie bloss die flache Kante, können Sie Drei- und Viereck gar nicht unterscheiden. Die flache Kante, im Wortsinn wie in der übertragenen Bedeutung, scheint mehr und mehr zu überwiegen, und zwar gerade auch dort, wo Meinung gebildet wird, in der Medienwelt.
Eine Meinung ohne grosse Sachkenntnis – und Sie haben über die Gymnasialjahre ja rechte Sachkenntnis erworben – ist gefährlich. Sie nährt das Klischee, sie bestärkt Vorurteile, und Klischees und Vorurteile sind Meinungen, die an jemandem kleben wie Leim, man kann diesen Leim nicht lösen. Man kann tun und lassen, was man will, alles erscheint plötzlich im Lichte dieses Vorurteils, dieser Vor-Meinung.
Achten Sie zudem auf das Licht, wenn Sie sich eine Meinung bilden. „Je tiefer die Sonne, umso länger die Schatten“, der Gedanke übrigens stammt von Lichtenberg. Es ist gefährlich, wenn alle Menschen eine Sache im selben Licht sehen. Das habe ich immer wieder in meinem Journalistenleben erfahren: Oft vertrat ich eine Meinung, die nicht gefragt war oder nicht geduldet wurde, eine Minderheitsmeinung, und ich erlebte alle Abgrenzungsversuche, wenn eine neue Meinung hochkommt, aber nicht geduldet wird, zum Beispiel: Die neue Meinung ist dumm, wer sie vertritt, ist eitel oder will sich nur profilieren oder ist der Handlanger von jemandem im Hintergrund oder ist inkompetent oder ist hinter dem Stand der Wissenschaft oder verfolgt mit der neuen Meinung eine andere Absicht als diejenige, die er zu erkennen gibt – lauter Ausgrenzungsstrategien, die sich nicht mit der Meinung an sich befassen, sondern mit demjenigen, der sie vertritt. Das ist das Schlimmste, wenn die Person statt der Meinung Kritik erntet.
Gerade auch in den Jahrzehnten, in denen Sie berufstätig sein werden, und gerade dort, wo Ihre Meinung besonders zählen wird, sei es im Unternehmen, das Sie selbst aufbauen, oder für das Sie arbeiten, sei es in der Öffentlichkeit, in der Politik, wo auch immer Sie sich einsetzen: Bitte schauen Sie sich die Sache sehr genau an, bevor Sie sagen: „So sehe ich das.“ Es ist eine Frage der Verantwortung gegenüber anderen Menschen, die von Ihrer Meinung abhängen.
Vergessen Sie dabei nicht das schöne Wort „abwägen“. Selten ist die Welt schwarz-weiss, sondern sie lebt von den Grautönen – das ist das Abwägende, das nicht von vornherein auf der einen oder auf der anderen Seite steht, in einem schwierigen Prozess der Meinungsbildung, in welchem Sie alle denkbaren Perspektiven bedenken sollten. Die Wirklichkeit ist nicht digital wie ein Computer, der mit den beiden Ziffern Null und Eins arbeitet. Die Welt ist weder Null noch Eins, meistens ist sie da etwas weniger, dort etwas mehr.
Die interessantesten Fragen, sich eine Meinung zu bilden, sind deshalb die Fragen der Grenzziehung. Etwas weiter oben, etwas weiter unten, ein bisschen weiter links oder rechts. Wo ziehe ich die Grenze? Das sind die intellektuellen und auch ganz pragmatisch interessantesten Debatten. Erst Abwägen, dann aber klare Folgerungen ziehen, zu einer klaren Meinung kommen, und dabei seine Überzeugungen bekunden, Haltung zeigen. Denn es gibt Grenzen, sie sind einfach da: die Menschenwürde, die Menschenrechte, die Achtung vor dem anderen – das sind keine Meinungen, die sind gegeben. Darüber kann man zwar debattieren, diskutieren, aber es sprengt den Rahmen einer Meinung.
Und wenn man eben Haltung hat und Überzeugungen, ist es manchmal ratsam, im Lauf der Jahre seine Meinung zu ändern. Das zeugt in keiner Weise von Schwäche! Oft zeugt es vielmehr von Grösse und der Fähigkeit zu Selbstkritik und Intelligenz, wenn jemand seine Meinung ändert. Hätte er keine Haltung, bliebe er bei der überholten Meinung. Das gilt im Privaten wie in der Politik, in der Einschätzung eines Menschen, gegen den man Vorbehalte hat, wie im Urteil über den politischen Kurs, den ein Land verfolgt.
Nicht selten ändert sich die öffentliche Meinung von der einen Sekunde auf die andere. Nehmen Sie sich in Acht vor der öffentlichen Meinung. Jede und jeder von uns ist dermassen beeinflussbar, namentlich etwa durch Gerüchte. Obwohl nur Substantielles in unsere Meinungen einfliessen sollte, bilden sie sich gerne anhand von Gerüchten. Oder wir lassen uns die Meinung bilden oder wir überlassen es anderen, die perfekt die Kunst beherrschen, ein Image aufzubauen, Meinungen im Hintergrund zu bilden.
„Image“, das Wort ist so wichtig geworden, aber es ist trügerisch. Image ist ja nicht die Substanz, sondern der Anschein, den man der Substanz verleiht. Wir alle bilden das Zielpublikum von PR-Strategen, die unsere Meinungen beeinflussen wollen. Deshalb am Ende ein Wunsch, liebe Maturandinnen und Maturanden: Bleiben Sie kritisch, kritisch und nochmals kritisch! Begeisterungsfähig natürlich, erst recht in Ihrem Alter, aber schauen Sie genau hin. Ich schliesse mit Lichtenberg. Er sagte: „Zweifle an allem mindestens einmal, und sei es, dass zwei mal zwei vier sind.“ Viel Erfolg auf Ihrem Weg!
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