oder: Was wir von der Welt nicht lernen wollen, von Willi Ebert
Rostow-am-Don, Juni 2011. Heute ist der Tag X. Im ganzen russischen Riesenreich finden die Schulabschlussprüfungen statt, und zwar dieselbe Prüfung und gleichzeitig, d.h., um eine Stunde verschoben, je nach Zeitzone, und in sechs Varianten. Aber damit haben die Maturanden längst leben gelernt. Schon Monate zuvor konnte man auf dem Internet die Aufgaben kaufen (für einen Dollar das Stück) und die Lösungen (zwei Dollar), ja, gewisse Aufgaben waren schon auf dem Netz, bevor sie die Moskauer Prüfungskommission beschlossen hatte! Und auch gute Schülerinnen kaufen dort, wollen sie nicht plötzlich ins Hintertreffen geraten und sich deswegen an einer miesen Uni wiederfinden. Alle lernten – wie immer – alles auswendig, am frühen Morgen erfuhr man noch, welche Varianten schon durch sind im Fernen Osten und welche also noch akut sind. Und wem trotzdem das so entlastete Gedächtnis versagt, der hat ja noch ein zweites Handy dabei oder die aufsehende Lehrkraft hilft etwas nach. Die „Rostower Lehrermafia“ habe wieder zugeschlagen, heisst es dann in Moskau, wenn der Schnitt in einem der Fächer deutlich höher ausfällt als anderswo.
Und so sehen dann meine Studenten an der Uni Rostow aus: Sie kennen alle Theoretiker der Sprachgeschichte, können aber kein Wort vom andern ableiten. Sie kennen alle angeblichen Fehler von Kant auswendig, gelesen haben sie nie etwas von ihm. Drüben bei den Ökonomen müsse jeder für die Schlussprüfung schmieren, heisst es, sonst liesse die auch den durchfallen, der alles weiss, pardon: auswendig kann. Offensichtlich kann man auch mit solchen Schülern einen Staat machen. Und den ersten Satelliten ins Weltall schicken. Diesem berühmten Sputnik verdanken wir es im Westen bekanntlich, dass auch bei uns die höheren Schulen für alle Begabten geöffnet wurden und die Maturaquote bis heute steigt. Während man aber in Russland nach wie vor ein Heer von halbgebildeten, technischen Akademiker heranzüchtet, setzte der Westen im Kampf der Systeme auf den selbstbestimmten Einzelnen, den kritischen Bürger. Wohl getan! Aber jetzt, nach dem Ende dieses Kampfes darf man sich nicht auf den Lorbeeren ausruhen und schon gar nicht die billigeren Methoden des Bildungsstalinismus hinterher bei uns noch einführen.
Bereits ist der ehemals verlachte Fünfjahresplan als „Leitbild“ zu uns gedrungen, bereits jammern die Uni-Professoren, mit Bologna würden nur gebüffelt, aber nicht mehr studiert, nur noch Punkte gesammelt, wie in der Migros, und evaluiert wie im Marketing. Und kopiert die modische „Corporate Identity“ nicht einfach das disziplinierende Kollektiv der alten Sowjetunion?
Darum: Augen auf vor den technokratischen Gleichmacher! Nichts gegen das „einheitliche Design“ der Maturaprüfungen, aber Vorsicht mit Zentralmatur-Ambitionen der Bildungsbürokraten. Nichts gegen „Harmos“, aber stoppt die Flut des „Kompetenzen“-Wahnsinns. Wir wollen nicht auf dem Schrottniveau zentralistischer Bildungssysteme ankommen, denn wir brauchen auch in Zukunft nicht den Verwalter mit einer Antenne im Genick, wir brauchen keine Apparatschicks, sondern eigenständige Denker und Forscher für verantwortbare Problemlösungen. Unsere Gymnasien haben hier eine grosse Tradition. Eine ihrer neueren und schöneren Blüte ist zum Beispiel unsere Maturaarbeit, wo unsere Schülerinnen und Schüler ihren Geist erstmals so richtig aufblitzen lassen können.
Es brauche, so sagten mir meine Kolleginnen in einer anderen Ex-Diktatur, in Argentinien, nur fünf Jahre, um ein Bildungssystem an die Wand zu fahren, aber 25 Jahre, es wieder aufzubauen. Besser noch, wir lassen es gar nicht so weit kommen und verteidigen unsere Stärken hier und heute.