Vom Teufelskreis der Sucht zum Kreislauf der Erkenntnis

6114222882_93b5314cdd_o

von Maya Rechsteiner (Foto: Nu)

Jede Zeit bringt ihre eigenen psychologischen Phänomene, Störungen, deren Beschreibungen, Erklärungen und Therapien hervor. So untersucht die Cyberpsychologie die Auswirkungen der Mensch-Maschine-Verschmelzung. Hochaltrigkeit gebiert Demenzforschung. Essstörungen gibt es nur dort, wo ein Überangebot an Nahrung besteht. Depressionen und Burnout, das Drehen im Hamsterrad, werden sich gemäss Angaben der WHO zur Volkskrankheit Nummer eins entwickeln. Gleichzeitig sind die Aussagen zu Glücks- und Zufriedenheitserleben in unseren Breitengraden so hoch wie noch nie.

Prokrastination, ein Krankheitsbild, bei welchem Menschen Arbeiten chronisch aufschieben, ihre Aufmerksamkeit schlecht fokussieren und kaum steuern können, ist auf dem Vormarsch. Bärbel Wardetzki beschreibt in «Narzissmus, Verführung und Macht in Politik und Gesellschaft» die Auswüchse der sich verbreitenden Narzissmusstörung als Überbewertung der eigenen Person und Entwertung der anderen sowie den damit einhergehenden Empathiemangel.

Alle diese skizzierten Erscheinungen bedürfen sowohl individueller Erfassung als auch gesellschaftlicher Einordnung. Psychologie ist eine Disziplin, welche mit geeigneten Methoden und unter Einhaltung gängiger wissenschaftlicher Regeln menschliches Erleben, Verhalten und Handeln zu beschreiben, zu verstehen, zu erklären und zu beeinflussen versucht – ein Kreislauf der Wissenserzeugung und der Lösungsgenerierung. Erklärungen in Form von Kreisläufen, zum Beispiel als Interaktions- und Entwicklungsmodelle zur Theoriebildung, füllen Lehrbücher und sind der Komplexitätsreduktion und dem Verständnis geschuldet. Da etwa Onlinesucht durch biologische und soziale Prozesse bedingt wird, bedarf die Erkenntnisgewinnung meist interdisziplinärer, mehrperspektivischer Fähigkeiten. So zeigen sich die Verfügbarkeit des Computers und die willentliche Steuerung bei der Onlinesucht als zentrale Einflussgrössen. Hier versuchen Therapieprogramme anzusetzen.

Forschende selbst befinden sich in einem Forschungskreislauf: Will man in dieser Disziplin an der Spitze mittun, gilt es, sich dem Mechanismus von «Publish or perish» auszusetzen und dieselben Erkenntnisse in kleinster Dosierung in den bekanntesten Journals zu platzieren. Der in der Schweiz am meisten zitierte Neuropsychologe ist der aus Bochum stammende und an der Uni Zürich Lehrende Lutz Jänke: In seinem Buch «Ist das Hirn vernünftig» geht er auch der alten philosophischen und von Sigmund Freud aufgegriffenen Frage nach der Existenz des Unbewussten nach. Die experimentelle Psychologie lehnte lange Jahre dezidiert die unbewusste Steuerung des Menschen ab. Neuropsychologische Untersuchungen dagegen zeigen, dass wir so vielen Reizen von innen und aussen ausgeliefert sind, dass sich der Grossteil unserer Gehirnaktivitäten unserem Bewusstsein entzieht, selbst dann, wenn wir uns im Wachzustand bewusst konzentrieren – Freud lag also gar nicht so falsch. Wie wir die Frage nach dem Einfluss des Unbewussten auf unser Verhalten in 50 Jahren beantworten werden, wird vom zukünftigen Kreislauf der Erkenntnisgewinnung abhängen, davon, was sich als etabliertes Wissen durchzusetzen vermag, oder auch vom dann aktuell geltenden wissenschaftlichen Irrtum.

Veränderte Lebensweisen generieren neue psychologische Phänomene und damit einen Kreislauf von der Beschreibung zur Suche nach Erklärungen und Beeinflussungsmöglichkeiten, der uns Offenheit, Neugierde und allem technischen Fortschritt zum Trotz auch die demütige Haltung des Nichtwissens abverlangen wird.