von Regina Bandi (Text und Foto)
Eine analog erlebte, haptische Erfahrung und für die Sinne sollte es endlich einmal wieder sein, nach all dem digitalen Unterricht der letzten Wochen. Gar nicht so einfach, wenn man an ein Schullabor mit Praktikumsplätzen, Mikroskopen, Spektrometern und moderner Molekularbiologieausrüstung gewöhnt ist. Und dennoch gibt es in der Biologie Experimente, die mit einfachsten Mitteln funktionieren und erstaunliche Erfahrungs- und Lernmomente bieten können.
Hier der Selbstversuch, den der Immersionskurs 3E kürzlich zuhause durchgeführt hat:
Man nehme eine Auswahl verschiedener frischer Gemüse und Früchte; Zitrone sollte dabei sein, so richtig sauer. Aber auch Salz-Cracker oder Joghurt könnten sich als interessant erweisen. Dazu eine speziell dafür aufgenommene Video-Versuchsanleitung, einen Protokollbogen und – eine Wunderbeer (miracle berry)-Tablette.
Die frischen Nahrungsmittel konnten sich die SchülerInnen selbst zusammenstellen. Das Paket mit Versuchsanleitung und Wunderbeer-Tablette wurden ihnen entweder mit der Post nachhause geschickt oder konnte nach Absprache individuell am Schulhaus abgeholt werden.
Das Experiment funktioniert mit dem „Vorher-Nachher“-Effekt. Man isst die Früchte und anderen Lebensmittel in einer bestimmten Reihenfolge und protokolliert deren persönlich gefühlte Geschmacksrichtung von 0-10.
Dann zerkaut man die Wunderbeer-Pille, isst die Lebensmittel in der gleichen Reihenfolge noch einmal und protokolliert erneut deren Geschmack. Wie man aus der Versuchstabelle der Schülerin Xenia entnehmen kann, erweist sich der Effekt als umso stärker, je saurer das Nahrungsmittel. Oder anders gesagt: Die Wunderbeer-Tablette vermag das Geschmacksempfinden zwischen sauer in Richtung süß extrem zu „stören“, sozusagen den Geschmackspapillen der Zunge fake news vorzugaukeln.
Joy beschreibt ihr Experiment folgendermassen: “The taste of the salted peanuts and marshmallows doesn’t change very much. However, the lemon and the coffee taste a lot sweeter. You can still taste the sourness of the lemon, and also the sweetness tastes weird (it isn’t the sweetness you know from sugar; it tastes more like some chemical). The coffee powder is the most astonishing. Before the miracle berry tablet, you couldn’t swallow the powder because it was so bitter, but after the miracle berry, you can actually eat it.”
Debora, die den Versuch mit ihrer Schwester zusammen durchgeführt hat, kommentiert das Geschmackserlebnis wie folgt: „What changed the most was the lemon and the Schweppes softdrink. The lemon tasted very good we couldn’t stop eating it. It had the perfect amount of sweetness and was super tasty. But the Schweppes soft drink was too sweet, and it wasn’t enjoyable at all. I just could take one sip.”
Nun, was genau steckt denn in dieser „Miracle Berry“ und was macht sie mit unserer Zunge?
Die rote, etwa 1cm große Wunderbeere wächst im westlichen Zentralafrika am tropischen Strauchgewächs Synsepalum dulcificum und ist geschmacklich selbst eher langweilig. Irgendwann beobachteten Ureinwohner jedoch, dass Vögel die Beeren fraßen und sich dann über sehr saure Früchte, die sie sonst verschmähten, hermachten. So wurden die Beeren für den Menschen entdeckt und selbst zum Genuss, wenn man sich saure Früchte versüßen wollte. Weltbekannt wurde die Beere 1968, als ihre Wirkung in Forscherkreisen Beachtung zu finden begann.
Was passiert nun biologisch? Wunderbeeren enthalten ein Glycoprotein, das man Miraculin nennt. Auf der Zunge angekommen, dockt Miraculin an diejenigen Geschmacksrezeptoren an, die für das Süßempfinden verantwortlich sind. Dort verharrt es im inaktiven Zustand, bis sich der pH im Mund verändert. Sprich, bis man etwas Saures zu sich nimmt. Säure aktiviert das Miraculinprotein und macht es zum Dauerbrenner, biochemisch gesagt zum positiv allosterischen Modulator, der die Süß-Rezeptoren blockiert, sie dabei aber extrem stark aktiviert und dem Gehirn Süße signalisiert. Dieser Effekt ist offenbar so stark, dass der eigentliche Geschmack von „sauer“ völlig übertönt wird. Der Effekt hält etwa eine Stunde an, so lange, wie die Süß-Rezeptoren mit Miraculin besetzt sind. Danach beginnt sich das Protein offenbar wieder abzulösen.
Die kleinen roten Beeren sind bei uns sehr schwer zu haben, da sie extrem schnell verderben und aus den USA oder Asien eingeflogen werden müssen – was zu allem nicht sehr nachhaltig ist. Inzwischen gibt es jedoch eine Alternative, da das „Flavour Tripping“ (Geschmackstrip) auf Partys zur Mode geworden ist. Man kann getrocknete, gepresste Wunderbeer-Tabletten kaufen, die den frischen Beeren in ihrer Wirkung praktisch nicht nachstehen. Aber aufgepasst, das mit den sauren Lebensmitteln sollte nicht übertrieben werden! Man kann sich bei zu viel des Guten, ohne es zu merken, leicht den Magen übersäuern.
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