
Text und Fotos der Veranstaltung: Flavia Manella, Fotos von SOS MEDITERRANEE: Fabian Mondl, Kevin Mc Elvaney, Anthony Jean und Isabelle Serro
Endlich dürfen wir wieder: Ein Workshop von Eva Ostendarp zur Arbeit der SOS MEDITERRANEE markiert am 9. November 2021 den Anfang einer Reihe von Mittagsveranstaltungen am Gym Muttenz. Und diese Arbeit auf dem Seenotrettungsboot, der Ocean Viking, hat es in sich. Die Geschichten, die sie unseren Schüler:innen erzählt, machen Eindruck.
82 Leute seien an Bord gewesen, ständig hätten sie Wasser aus dem Boot schöpfen müssen, nach fünf Tagen sei der Kompass kaputt gegangen. Sie seien dann an einem Ort geblieben. Sie hätten zu wenig zu essen und zu trinken gehabt. Der Kapitän habe gesagt, man solle sparsam essen. Nach sechs Tagen sei sein Freund neben im kollabiert. Er habe geweint. In der Nacht hätten sie ein rotes Licht gesehen. Das sei das Militär gewesen: „Wir warteten auf unseren Tod“, berichtet Camara, ein Flüchtling aus Gambia. Er hatte erstmal nicht das Glück, in dieser Situation auf offenem Meer vom Schiff „Ocean Viking“ der Hilfsorganisation SOS MEDITERRANEE gerettet zu werden. Er musste zurück nach Libyen, erst später gelang ihm endgültig die Flucht. Seine Schilderung der Situation auf offenem Meer gleicht jener, welche unzählige Flüchtlinge jährlich erleben.
SOS MEDITERRANEE konnte mit ihrem Seenotrettungsschiff seit ihrer Gründung im Jahre 2015 bereits 34‘000 Menschen retten. Auf dem Mittelmeer, der tödlichsten Fluchtroute vom afrikanischen Kontinent nach Europa, sind dieses Jahr schon mindestens 1200 Personen ertrunken – die Dunkelziffer dürfte sehr viel höher liegen. Mit Schlauch- und Holzbooten werden bis zu 1000 Flüchtlinge aufs Mal auf die bis zu 400 km lange Reise von Libyen nach Italien geschickt. Oft haben diese Boote kaum genügend Wasser, Essen und Treibstoff, um sicher in Europa anzukommen. Wenn ein Notruf abgesetzt wird – sei es über die Notruflinie, oder weil ein Flugzeug, Tanker oder Kreuzfahrtschiff ein Flüchtlingsboot entdeckt hat – sticht die Ocean Viking, das Rettungsschiff der SOS MEDITERRANEE, aufs offene Meer. Neben zahlreichen medizinischen Fachkräften wie Ärzten, Psychologen, Sanitätern und Hebammen, befinden sich auch Übersetzer und Köche an Bord. Eva Ostendarp zeigt uns einen solchen Einsatz in einer kurzen Filmreportage. Der Rettungsbooteinsatz verläuft professionell. Vom Hauptschiff aus werden zwei kleinere Boote in Richtung des Flüchtlingsboots gesandt, um die Insassen zu retten. „Wichtig ist, dass die Flüchtlinge erkennen, dass wir ihnen helfen wollen, dass wir nicht von der lybischen Küstenwache sind und sie zurückholen um sie in ein Internierungslager zu stecken,“ meint ein Seenootretter. Eine Übersetzerin in einem kleinen Boot erklärt den übermüdeten und erschöpften Flüchtlingen das Vorgehen. Crowd control sei dabei ein zentrales Stichwort: Die Gruppen dürften nie in Panik geraten, unruhig werden, sonst sei die Situation für alle Anwesenden sofort viel gefährlicher. Die Crew verteilt als erstes die Rettungswesten an Frauen und Kinder. Dann werden die Flüchtlinge in Gruppen aufs Hauptboot gefahren. Das braucht Zeit – bis zu fünf Stunden kann eine solche Rettungsaktion dauern. In diesen fünf Stunden schlägt das Wetter um. Ein Sturm naht, Blitze schlagen entfernt ins Meer. Spätestens jetzt wird allen Anwesenden bewusst, wie gefährlich diese Einsätze sind und wie gross der Druck sein muss, damit sich jemand zu so einer gefährliche Flucht – oftmals auch mit Kindern – entscheidet.




Die Crew arbeitet hochprofessionell unermüdlich weiter. Sie schaffen es, alle Flüchtlinge sicher aufs Hauptschiff zu bringen. Dort erhalten sie nebst medizinischer Erstversorgung auch einen Rucksack mit den wichtigsten Dingen – neuen Kleidern, Wasser und Verpflegung. An Bord der Ocean Viking befindet sich unter anderem auch ein Schutzraum für Frauen und Kinder. Dieser sei extrem wichtig, meint Frau Ostendarp, weil sehr viele Frauen auf der Flucht unter sexueller Gewalt leiden mussten und sehr verängstigt seien. Immer wieder seien auch schwangere Frauen dabei – insgesamt 6 Babies seien schon an Bord geboren worden. Einmal sei eine schwangere Frau im achten Monat an Bord zum ersten Mal in ihrer Schwangerschaft medizinisch untersucht worden. Erst da fand sie heraus, dass sie mit Zwillingen schwanger ist. Als sie zur Welt kamen, nannte sie ihre Mutter Ocean und Viking – wie das Schiff, auf dem sie geboren wurden. Die SchülerInnen atmen sichtlich auf. Endlich mal eine positive Meldung.
Während wir an der Mittagsveranstaltung den Ausführungen von Frau Ostendarb zuhören, ist die Ocean Viking mit etwas mehr als 300 Flüchtlingen auf dem Meer unterwegs, es regnet sehr stark, die Bedingungen seien besorgniserregend. Die Crew müsse die Personen versorgen, gleichzeitig aber auch einfach warten, bis ihnen die Behörden – meist die italienischen – grünes Licht geben würden, damit sie in einen sicheren Hafen einfahren und die Flüchtlinge an Land an eine weitere Hilfsorganisation übergeben dürfen.
Auch die rechtliche Situation wurde angesprochen. Auf See gilt das internationale Seerecht. Jeder Kapitän, jede Kapitänin muss Menschen in Not helfen, unabhängig von Nationalität, Status oder den Umständen, unter denen sie gefunden werden. Gerettete müssen an einen sicheren Ort gebracht werden. So lautet die Pflicht zur Hilfeleistung. Dieser sichere Ort sei im Mittelmeer meist Italien. Aber auch hier müssten die Schiffe meist zwischen drei bis zehn Tagen warten, bis sie in einen Hafen einlaufen dürfen. Momentan seien die Flüchtlinge sogar noch angehalten, zwei zusätzliche Wochen auf einem Quarantäneschiff zu verbringen, bevor sie an Land dürfen. Es sei eine sehr belastende Prozedur für die Menschen. Warum sie überhaupt fliehen würden, fragt Frau Ostendarp die Schüler:innen. „Wegen Krieg, fehlender Freiheit und mangelnder religiöser Toleranz in ihren Ursprungsländern,“ meinen ein paar Schüler:innen. Die Liste sei viel länger – Genitalverstümmelung, Zwangsheirat, fehlende Arbeit, Hunger, Dürre, Bedrohung durch Terrormilizen. Ein Viertel der Flüchtenden sei minderjährig, 80% davon unbegleitet. Sobald die Flüchtenden einmal in Libyen am Strand angekommen sind, gibt es keinen Weg zurück. Die Schlepper würden sie auch auf Boote zwingen, die sehr schäbig aussehen. Wieder in den Süden zurückkehren sei keine Option, meint ein Flüchtender. Der Weg zurück durch die Wüste sei noch gefährlicher. Dort könne man von den überfüllten Fluchtfahrzeugen fallen und werde alleine in der Wüste zurückgelassen – so weit weg von aller Zivilisation, dass man es kaum lebendig zu Fuss in eine Stadt schaffen würde. Zudem: Wird man von den Libyern gefangen genommen, drohe einem Folter und Vergewaltigung. So erscheint die Flucht über das Meer tatsächlich als das geringere Übel – Emmanuel, ein Flüchtender aus Kamerun, dem die Flucht gelungen ist, erzählt: „Ich wäre lieber im Meer untergegangen, als nach Libyen ins Internierungslager zurückgegangen.“. Es ist schwierig zu verdauen, was Frau Ostendarp unseren Schüler:innen erzählt. Es lässt einen machtlos erscheinen. Kann man überhaupt etwas tun? Versuchen Sie nicht wegzusehen und „engagieren Sie sich für ein gesundes Miteinander, egal, in welcher Form“, empfiehlt Frau Ostendarp.



Ein Gedanke zu “„Ich wäre lieber im Meer untergegangen, als nach Libyen zurückzukehren.“”
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