
Ich singe und kaufe Kuchen für die Ukraine. Ich gehe auf die Strasse für Black Lives Matter und fürs Klima. Ich fliege nicht, ich esse kein Fleisch, ich setze sogar Gendersternchen. Doch was bringt mir das alles, wenn Russland in die Ukraine einmarschiert, wenn unzählige weitere, nicht weniger schlimme Kriege auf der Welt geführt werden, wenn in Australien ein Fünfjahrhunderthochwasser eintritt und dies nun alle fünf Jahre zu erwarten sein muss, wenn gleichzeitig Nationalräte den Klimawandel leugnen und die Schweiz das CO2-Gesetz ablehnt, wenn Multimilliardäre ein Wettrennen zum Mars veranstalten, während ihre Angestellten in Flaschen urinieren müssen, und wenn während all dem ein tödliches Virus die Welt und mein Sozialleben lahm legt und dazu beiträgt, dass Nazis stolz durch Bern marschieren können? Herzlich wenig. Doch darauf zu verzichten, käme der Kapitulation gleich, und auch wenn eine Kriegsmetapher unter den aktuellen Umständen an Sarkasmus nur schwer zu überbieten ist: Kapitulation ist nur für Loser.
Von Jan Soder (Foto: Nu)
Es ist verwirrend, in der aktuellen Zeit aufzuwachsen und erwachsen zu werden. An meinem 18. Geburtstag konnte ich aufgrund der Pandemie weder Freund*innen noch Familie treffen. Meinen 19. Geburtstag verbrachte ich in Quarantäne. Meinen 20. kann ich hoffentlich normal feiern, bevor ich mich beim 25. in einer Quarterlife-Crisis befinde und beim 50. im Klimaexil im tropischen Schweden, vorausgesetzt, dass ich nicht zuvor bei einem Jahrtausendwirbelsturm oder einem Raketenangriff ums Leben komme. Die Zukunftsaussichten sind düster. Sie überfordern. Soll ich traurig sein? Oder doch eher wütend? Frustriert oder motiviert? Ersteres liegt näher, Letzteres wäre wichtiger. Bin ich als Einzelperson, als winziges Teil in diesem Achtmilliarden-Puzzle überhaupt von Bedeutung? Nein. Das heisst aber nicht, dass es nicht wichtig ist, sich zu engagieren. Einerseits findet man dadurch Halt. Man tut etwas. Man trägt zur Lösung des Problems bei, egal wie kompliziert dieses zu sein scheint. Andererseits gibt es keinen anderen Weg hin zur Lösung. Die Politik steckt im Sand. In der Schweiz dauert sowieso alles ewig. Der einzige Weg zum Ziel ist der gesellschaftliche Wandel. Ich als Einzelperson kann die Welt nicht verändern. Doch wenn ich auf Fleisch verzichte und stattdessen vielfältige Alternativen ausprobiere, dann kriegt auch meine Mutter einen Gefallen daran und reduziert ihren Tierkonsum. Wenn meine Eltern Solarzellen aufs Dach montieren, dann lassen sich die Nachbarn inspirieren (oder herausfordern) und ziehen mit. Wenn ich ein Gendersternchen oder einen Doppelpunkt setze, dann tun dies meine Lehrer*innen, die meine Texte lesen müssen, vielleicht auch. Wenn ich auf der Klimademo lauthals Parolen rufe, dann tut das die neben mir auch. Doch, und das ist viel wichtiger, wenn ich ruhig am Strassenrand stehe, dann tut das der neben mir ebenfalls. Und diejenige neben ihm genauso. Und die zehn Personen dahinter auch.
Meine Stimme hat zwar wenig Gewicht im Vergleich mit den übrigen acht Milliarden. Doch im Rahmen meiner vierköpfigen Familie, im Rahmen meines achtköpfigen Freundeskreises oder meiner siebzehnköpfigen Klasse kann ich mit meinem Verhalten, mit meinen Werten und meinem Engagement etwas bewirken. Und wenn all jene, die ich beeinflussen kann, wiederum bei ihrer Familie, ihrem Freundeskreis und ihren Klassenkolleg*innen einen Wandel anstossen können, dann lohnt es sich. Es lohnt sich, für die Ukraine zu singen und Kuchen zu kaufen. Es lohnt sich, für Black Lives Matter und das Klima auf die Strasse zu gehen. Es lohnt sich, auf Fleisch und das Fliegen zu verzichten, und es lohnt sich, einen Genderstern zu setzen. Nur so kann ein gesellschaftlicher Wandel vorangetrieben werden. Nur so kann man die Hoffnung am Leben halten. Nur so kann man zum Sieger werden. Denn: Kapitulation ist nur für Loser.
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