MINT ist Kultur und Kultur ist MINT 

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von Daniel Nussbaumer (Text und Fotos)

Elektromagnetische Wellen strömen durch die Luft und klatschen in Brigitte Jäggis Gesicht. Die Rektorin schleudert sie weg, direkt auf die Frontlinse meiner Kamera. Jetzt tut das Objektiv seine Arbeit: Es bündelt in verschiedenen Linsen die Wellen aus Licht und projiziert Brigitte Jäggi, auf dem Kopf stehend und spiegelverkehrt, auf 36x24mm Sensorfläche im Gehäuse. Mit dabei alles, was im eingestellten Bildwinkel liegt, auch unseren Besucher von der Schweizerischen Akademie der Naturwissenschaften (SCNAT), den Molekularbiologen Marc Creus, mitsamt der Innenausstattung unseres Chemielabors. Der Kamerasensor nimmt die Szene nicht als analoges Bild auf, sondern zerlegt mit Millionen von Halbleitersensoren die kurzen und langen Wellen zuerst in einzelne Pixel und dann in Abermillionen von Nullen und Einsen. Der Prozessor wandelt diesen digitalen Code wieder um und spielt mir das Bild aufs Display. In meinem Kopf wiederholt sich ein ähnlicher Vorgang wie zuvor in der Kamera. Die Lichtwellen aus dem Display prallen auf mein Auge, passieren die Pupille und gelangen in die Linse, die sie bündelt und auf die Netzhaut spiegelt. Zapfen und Stäbchen picken sich die passenden Lichtwellen heraus und leiten sie über den Sehnerv als elektrisches Signal in mein Gehirn. Dieses interpretiert das Signal und konstruiert daraus ein Bild, das Abbild eines Bildes einer Szene, die vielleicht so stattgefunden hat – meine Wahrnehmung von Wirklichkeit.

Ein Label für MINT

Die Rektorin zeigt stolz das MINT-Label und auch der Molekularbiologe lächelt. Er macht sich auf dem Rundgang ein Bild von der Schule, die seine Jury-Kollegen von der SCNAT am 6. Juni 2019 zusammen mit 17 anderen ausgewählten Gymnasien aus der ganzen Schweiz mit dem Label „MINT-aktive Schule 2019-2024“ ausgezeichnet haben. MINT – Mathematik, Informatik, Naturwissenschaft und Technik.  Die SCNAT möchte mit dem Label speziell die interdisziplinäre Forschung unterstützen und eine Kultur entwickeln, welche MINT-Fächer als wichtige Grundlagen von Gesellschaft und Wirtschaft ansieht und einen integrativen Dialog fördert. Die ausgezeichneten Schulen mussten sich für das Label bewerben und wurden nach quantitativen Kriterien (Wie viel tun sie für MINT?) und qualitativen Kriterien (Wie motiviert sind sie bei der MINT-Förderung?) nach einem Besuch von zwei Jury-Mitgliedern beurteilt. Marc Creus selber ist nicht Teil der Jury, sondern hat als Mitglied der Nachwuchsförderungskommission das Label und dessen Vergabe erst ermöglicht. Im Interview nach dem Rundgang zeigt er sich als aufgeschlossener Gesprächspartner und gibt bereitwillig Auskunft, was die SCNAT mit dem Label bewirken möchte. Die Schallwellen seiner Stimme strömen ins Mikrofon meines Smartphones, dessen Prozessor sie in ein digitales Signal umwandelt und im Gerät als Datei ablegt. Bevor ich diesen Text schreibe, fliessen die Schallwellen über meine Ohrmuschel durch das Aussenohr und versetzen mein Trommelfell in Schwingung. Die Gehörknöchelchen des Mittelohrs leiten den Schalldruck ans Innenohr weiter und dieses wandelt ihn um in elektrische Impulse, die mein Gehirn entschlüsselt. In komplexeren Operationen erschliesst mein Gehirn einen Sinn und verarbeitet die wahrgenommenen Sinneseindrücke vom Besuch des Wissenschaftlers mit dem, was ich an der Schule an naturwissenschaftlichen und mathematischen Aktivitäten mitbekomme. Es sind dies, ohne Anspruch auf Vollständigkeit, das Schwerpunktfach Biologie und Chemie, das Berufsfeld Gesundheit in der FMS mit seiner Nähe zu den Life Sciences, das Bio Valley College Lab, die Teilnahme an MINT-Wettbewerben und MINT-Olympiaden, die Besuche der ETH-Studierenden bei uns, interdisziplinäre Projekte im zweiten Gymnasialjahr, das Swiss GeoLab FHNW, das Projekt Klimagarten der ETH, die Einführung des digitalen Unterrichtes mit eigenen Geräten (BYOD).

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Wer als Schule das Label bekomme, so rekonstruiert mein Gehirn aus den elektrischen Impulsen des Innenohrs die Stimme von Creus, könne sich gut in einem Netzwerk mit den anderen ausgezeichneten Gymnasien organisieren und aus ihren Best-Practice-Beispielen lernen. Das fördere auch die Kommunikation zwischen den Sprachregionen in der Schweiz. Das Label soll gemäss der Homepage der SCNAT zudem die kantonalen Erziehungsdepartemente darin unterstützen, Ressourcen für die neuen Bildungsanforderungen zu entwickeln und bereitzustellen. Das Startsignal zu dieser gezielten und vernetzten Förderung der MINT-Kultur wurde im Frühling dieses Jahres mit der Verleihung des MINT-Labels gegeben. Creus selber sagt: „Wissenschaft ist Kultur und als solche eine Gemeinschaft, die auch Ethik integriert. Ich hoffe, das MINT-Label hilft, diese Kultur aufzubauen.“ Besonderes Augenmerk richte die wissenschaftliche Nachwuchsförderung auf den Gender-Aspekt. Creus beobachtet an den Unis und in der Wirtschaft den Effekt einer „leaky pipeline“: In den Schulen und immer mehr auch an den Universitäten seien die Frauen im naturwissenschaftlichen und technischen Bereich auf dem Vormarsch, aber im akademischen Lehrkörper und in den wirtschaftlichen Führungspositionen seien sie kaum vertreten. Sie würden auf dem Weg in die Kaderpositionen verloren gehen. Doch die SCNAT will das angehen: „Nächstes Jahr organisieren wir dazu eigens ein Symposium in Bern, das sich explizit dem Thema Gender-Balance in der Wissenschaft widmet“, verspricht Creus.

Gender Balance am Gym Muttenz

Unwillkürlich bewegt mein Muskel- und Sehnenmechanismus die Scharniergelenke des Zeigefingers und ich halte die Audiodatei auf dem Smartphone an. Vor meinem inneren Auge treten die unterrichtenden Kolleginnen und Kollegen der MINT-Fächer an. Zuerst die Chefin. Sie ist Biologin und die erste und bisher einzige Frau, die ein Baselbieter Gymnasium als Rektorin leitet. Ihre Fachschaft besteht aus Frauen und Männern, während in Physik nebst den männlichen Kollegen nur eine Frau unterrichtet. Drei Chemikerinnen stehen ihr zur Seite. Sie bilden die Hälfte ihrer Fachschaft. Und wie sieht die Choreografie bei der Mathe-Fachschaft aus? Auch hier hat sich etwas getan. Das ist längst nicht mehr die Boygroup der Achtziger und Neunziger Jahre! Fünf von fünfzehn Mathe-Unterrichtenden am Gym Muttenz sind Frauen. Die Pipeline von der starken Beteiligung der Mädchen an der gymnasialen Bildung bis zur Tätigkeit als Akademikerinnen und Kader-Mitarbeiterinnen in der Wirtschaft wird nicht mehr lange leck sein.

Bleibt mir übrig, die Eindrücke vom Besuch der Schweizerischen Akademie der Naturwissenschaften an unserem Gymnasium mit allen Sachinformationen in einen linearen Sprachcode zu übersetzen, das Foto dazu auszuwählen und dieses in der digitalen Nachbearbeitung in ein Schwarz-Weiss-Bild umzuwandeln, damit der monochrome Offset-Druck es für den Entfalter verwenden kann. Alles, was ich mache, sind naturwissenschaftlich und technisch beschreibbare Vorgänge auf physikalischer, chemischer und biologischer Ebene, einige davon mit technischer Unterstützung bis hin zur Umwandlung zu binären Codes. Ist mein Gehirn, sind mein Denken und Fühlen eine Verlängerung des Computers? Bin ich Teil einer Maschine? Nein, ich bin ein denkender, fühlender und gestaltender Mensch. Ich male mit Licht. Ich schreibe meine Gedanken. Ich mache MINT.

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