Durch Singen den Krieg bezwingen

Ein beklemmendes Gefühl kommt in mir auf. In meinem ganzen Körper spüre ich ein Kribbeln. Ich kenne dieses Gefühl nur all zu gut: Lampenfieber! Ich stehe eng eingequetscht zwischen meinen Kollegen und Kolleginnen, denen es genau so ergeht. Man hört das Rascheln der Besucher und Besucherinnen des Benefizkonzertes, welche sich jetzt alle in der katholischen Kirche zusammengefunden haben. Nun ist es so weit. Wir gehen langsam auf die Bühne.
Von Maxine Walder (Fotos: Daniel Nussbaumer)

Unauffällig scanne ich von meinem Platz aus die Menschenmenge ab. Viele Gesichter sind mir bekannt und oben auf dem Balkon sehe ich meinen Klassenlehrer, wie er seine Kamera zum Fotosknipsen bereitstellt. Die Dirigentin Lucia Germann von Schweinitz hält ihre Hände hoch. Einen kurzen Moment ist es mucksmäuschenstill und dann schwingen die ersten Klänge von der „Kyrie“ Verdis durch den Raum. Mein Mund öffnet sich wie von selbst und fängt automatisch zu singen an. Das Gefühl von Platzangst ist wie weggeblasen. Doch die Beklemmung ist immer noch zu spüren. Meine Gedanken sind etwa 2000 Kilometer weit entfernt von mir.  Sie schweifen in die Ukraine, dort befinden sich Menschen, die um ihr Leben bangen, die für das Heimatland kämpfen, die trauern um ihre Nächsten.

Für diese armen Menschen aus der Ukraine veranstalten wir heute ein Benefizkonzert. Die ganze Idee ist spontan entstanden. Der Gym Chor Muttenz (Leitung: Christoph Huldi, Jürg Siegrist, Christine Boog, Olivia Zaugg) und der Gym Chor Liestal (Leitung: Lucia Germann von Schweinitz, Michael Zumbrunn) haben mit uns in dieser Woche Unglaubliches vollbracht. Nach nur einer gemeinsamen Probe stehen wir nun zusammen auf der Bühne. Genau das erklärt die Rektorin Frau Jäggi dem Publikum auch in ihrer Begrüssungsrede. Im nächsten Augenblick folgt unser Auftritt mit dem „Dies Irae“ aus dem Requiem von Verdi. Nach unserer Darbietung gehe ich mit dem Gym Chor Muttenz von der Bühne und die volle Aufmerksamkeit gilt dem Gym Chor Liestal. Unsere Kolleginnen und Kollegen aus Liestal singen vier Stücke zusammen mit Serafin Kehl, der sie auf seinem E-Bass begleitet. Noch während die letzten Töne von „Parkplatzregen“ verhallen, steige ich mit dem Kammerchor des Gym Muttenz die Treppen hoch, um an meinen Platz zu gelangen. Jürg Siegrist gibt uns unseren Einsatz. Die Worte „Tebje Pajom“ kommen über meine Lippen. Übersetzt heisst das: „Zu Dir beten wir.“ Dieses Stück stammt aus der Feder des ukrainischen Komponisten Dmitri Bortnjanski. Nach dem Applaus kommen auch die anderen Sänger und Sängerinnen von Muttenz zu uns und wir singen die einstudierten Stücke.


Da entdecke ich eine mir unbekannte Frau im Publikum. In ihrer Hand hält sie einen Zettel. In ihrem Gesicht liegt ein Ausdruck von Traurigkeit. Kaum sind wir mit unserem Stück fertig, steht sie auf und geht auf die Bühne. Sie ist eine Geflüchtete aus der Ukraine, die mit ihrer Familie zurzeit bei unserem Chorleiter Christoph Huldi wohnt. Im Gegensatz zu anderen Familien wurden sie und ihre Angehörigen auf der Flucht nicht auseinandergerissen. Für das Konzert hat sie eine kleine Rede vorbereitet. Ich horche der zitternden Stimme der Ukrainerin, und Iryna Roth, Physiklehrerin am Gym Muttenz, übersetzt ihre ersten Worte. Es sind erschütternde und zugleich dankbare Worte. Ich merke, wie mir Tränen in die Augen schiessen. Es herrscht Totenstille in der Kirche. Alle hören aufmerksam zu und lassen die Rede auf sich wirken. Der Krieg ist plötzlich nicht mehr 2000 Kilometer entfernt, sondern ganz nahe und mir wird bewusst, wofür ich hier singe. Aus vollstem Herzen singen wir unsere letzten Stücke von Verdi. Schlussendlich stimmen alle Anwesenden zusammen „Dona nobis pacem“ an. Es gibt mir ein Gefühl von Verbundenheit mit all den Menschen, für die wir an diesem Abend Geld sammeln. Es wird fleissig gespendet und es kommt ein Geldbetrag von 7913.25 Franken zustande. Ich kann es kaum glauben, dass wir als Chor so viel sammeln konnten. Dazu legen wir noch Einnahmen aus dem Kuchenverkauf, den wir am Gym Muttenz organisiert haben.

Der Kuchenverkauf läuft immer noch.  Alle Spenden sind für das Netzwerk Schweiz-Transkarpatien-Ukraine NeSTU bestimmt, zu dem das Gym Muttenz seit Jahren Kontakt hat in einem unterstützten Sozialprojekt. Das jetzt gesammelte Spendengeld wird direkt für humanitäre Hilfe im Kriegsgebiet eingesetzt.

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