von Josia Lyrer
Lima, Peru, am 24. Dezember 2018 im Distrikt Jesús María, gerade laufe ich zu einer Bushaltestelle. Mein Zielort ist der Distrikt Rimac. Dort lebt ein Grossteil meiner peruanischen Familie. Ich werde heute bei ihr das Weihnachtsfest verbringen.
Das Haus meiner Familie ist in der Nähe eines grossen Blumenmarktes, des Mercado de Flores. An der Bushaltestelle angekommen, warte ich jetzt auf einen dieser typischen peruanischen Busse, die aus den Siebzigern zu stammen scheinen. Nach einigen Minuten kommt er, ich steige ein, sage dem Chauffeur: «Mercado de Flores», gebe ihm den zu zahlenden Betrag in die Hand und setze mich auf einen Sitzplatz. Ich kann mich glücklich schätzen, denn ein freier Sitzplatz scheint mir manchmal echt ein Luxus in Lima zu sein. Oft genug habe ich erlebt, dass die Busse so voll waren, dass man beim Stehen fast zerquetscht wurde. Ja, wirklich. Wenn du Berührungsängste hast oder an Platzangst leidest, ist der Bus in der peruanischen Hauptstadt eindeutig ein No-Go für dich.
Diese unangenehmen Momente erlebte ich, als ich mit dem Bus einige Monate vorher zur Schule fuhr. Täglich ging ich zu der Busstation und hoffte, dass der Bus bald kommen würde. Ich erinnere mich noch, dass der Bus einmal so voll war, dass ich mich gerade mal auf den äussersten Rand hinstellen konnte. Dabei wurde mein Rucksack von den Bustüren zerdrückt, als diese sich schlossen. So ging meine Essensbox kaputt. Der Bus brauchte je nach Verkehrslage zwischen 35 Minuten und mehr als eine Stunde bis zur Schweizer Schule Pestalozzi. Ich besuchte die Schule bis zu den Sommerferien, welche in Peru im Dezember beginnen. Ich konnte dort wirklich meine Spanischkenntnisse um einiges verbessern, das war ja auch das Ziel meines Auslandaufenthaltes. Die Schweizer Schule Pestalozzi in Lima ist eine Privatschule, in der nicht nur auf akademische Höchstleistung gesetzt wird, sondern auch auf humanistische Werte und engagiertes Arbeitsverhalten. Die Pestalozzischule beinhaltet einen Kindergarten und elf Schuljahrgänge. Dabei wird dort auch eine internationale Matura angeboten. Diese ermöglicht es den Schülern, später in der Schweiz oder in anderen Länder zu studieren.
Die jetzige Busfahrt ist eine lange. Der zurückgelegte Weg an sich ist eigentlich kurz: 7.7km. Da sich die Strecke aber durch Abancay schlängelt, können solche Busfahrten manchmal bis zu eineinhalb Stunden dauern. Das ist jetzt auch bei mir der Fall. Wir sind kurz vor Weihnachten und in ganz Lima treffen die Leute, mit einer für Latinos so unüblichen Hast und Eile, ihre letzten Vorbereitungen. Die Strassen sind voll. Abancay ist eine der meistbefahrenen Strassen von Lima. Sie verläuft quer durch das Zentrum. Deshalb wütet dieses Chaos auf meinem Weg in einem viel grösseren Ausmass als sonstwo.
Nun kämpft sich der Bus durch die Strasse Mancocapac. Ich sehe von aussen viele Strassenverkäufer, Kioske und weitere Arten von Verkaufsständen, die am Rand der Strasse ihren Handel treiben. Ein Anblick, an den ich mich schon längst gewöhnt habe. Ein kleines Spektakel ist es immer wieder für mich, wenn ich die Früchtekarren durch die Strassen fahren sehe. Per Audioaufnahmen, welche die Fahrer der Karren über starke Lautsprecher immer wieder abspielen, werden die Leute über das Früchteangebot informiert. Da heisst es manchmal: «Fünf Avocados für einen Sol», umgerechnet 30 Rappen. Oder «2 Kilo Mango für drei Soles». Bei diesen Preisen trieb mich die Lust mehrmals fast dazu an, aus dem Bus zu steigen und einen ganzen Sack Avocados zu ergattern. Dies ist nur ein Beispiel, welches darauf hindeutet, dass Peru ein wortwörtliches Früchteparadies ist. Tatsächlich werden in Peru die verschiedensten Früchte zu besten Preisen angeboten. Darunter finden die Kunden auch viele Früchtesorten, die in der Schweiz leider kaum erhältlich sind.
Der Bus fährt noch immer durch Mancocapac und es steigt ein Mann ein. Er scheint ein Strassenverkäufer zu sein, einer von Tausenden, die es in Lima gibt. Er ergreift das Wort und verkündet durch den ganzen Bus, dass es sich um einen Überfall handle und dass alle jetzt sofort ihre Handys und Geldbeutel in seinen Sack zulegen hätten. Für einen kurzen Moment wird es ganz still im Bus. Doch dann löst der Mann das unangenehme Klima auf und erklärt uns, es sei nur ein Witz. Man bräuchte mindestens vier bewaffnete Leute, um solch eine Operation durchzuführen, sagt er noch und bietet danach Wunderkerzen zum Verkauf an. Ich greife zu meinem Portemonnaie, hole paar Münzen raus und gehe auf sein Angebot ein.
Neben Strassenverkäufern wie er steigen auch ständig viele Bettler ein, die ihre traurige Geschichte erzählen, und Strassenmusiker, welche das Publikum mit Musik unterhalten, um eine kleine Spende zu erhalten. Meistens lässt der Busfahrer die Bettler, Musiker und Verkäufer gratis mitfahren. So sind die Busse in Lima wahre Goldgruben für sie geworden. Ein grosser Anteil von ihnen sind Venezolaner, welche ihr Land verlassen haben. Sie halten sich über Wasser, indem sie den ganzen Tag in Busse einsteigen, dort mitfahren, den Passagieren Produkte zum Verkauf anbieten, einfach betteln oder musizieren, dann aussteigen und sich anschliessend einen neuen Bus suchen, um den ganzen Vorgang zu wiederholen.
Jetzt ist es so weit. Der Bus hat Abancay erreicht. Wir fahren gerade an grossen Kleidermärkten vorbei. Die Märkte sind voll mit Leuten. Im Hintergrund hört man den Lärm der Fahrzeugmassen, der sich nie erschöpft.
Die Fahrt geht weiter und ich merke, wie die starke Hitze und die stickige Luft im Bus mich müde machen. Leider sind die Fenster aus mir unerklärlichen Gründen geschlossen und ich komme nicht an frische Luft heran. Es beginnt ein Kampf. Immer wieder nickt mein Kopf aus Müdigkeit nach vorne und ich schliesse die Augen. Doch es gelingt mir Gott sei Dank jedes Mal, bevor es zu spät ist, mich aus dem drohenden Schlaf zu rütteln. Ich muss wach bleiben, denn ich will ja nicht das Ziel verpassen und in irgendeinem Loch landen. Nun die Blitzidee. Ich hole meine Wasserflasche aus dem Rucksack, giesse Wasser in meine Handflächen und benetze mein Gesicht mit dem Wasser. Tatsächlich gelingt es mir so, die Müdigkeit zu überwinden. Wie es scheint, bin ich nicht der Einzige, der mit diesen Müdigkeitsanfällen zu kämpfen hat. Ich sehe mehrere Leute im Bus, die zu schlafen scheinen.
Noch eine halbe Stunde lang drängt sich der Bus durch die volle Abancay und erreicht dann Acho, eine weitere Strasse in Lima. Von jetzt an geht alles ganz schnell. Ich muss jetzt aufpassen, dass ich die Zielstation nicht verpasse. Endlich ist es soweit. Der Bus ist beim Mercado de Flores angelangt. Ich laufe zur Hintertür und drücke den Knopf. Es dauert noch einige Sekunden, bis der Bus anhält und ich aussteige. Nun laufe ich zum Haus meiner Familie und klopfe an der Tür. Endlich, nach guten eineinhalb Stunden bin ich angekommen. Die Tür geht auf und ich werde von meiner Tante sofort hereingebeten. Ich bin angekommen, doch es dauert noch einige Zeit, bis das Fest beginnt.
Ich überbrücke die Zeit mit meinen Cousins, indem wir auf der Terrasse des Hauses Fussball spielen. Es ist eine wertvolle Zeit mit meinen Cousins und in Momenten wie diesem freue ich mich immer wieder darüber, dass dieser Auslandaufenthalt möglich gemacht wurde. Ich habe gerade deswegen Peru für den Auslandaufenthalt ausgewählt, um mit meiner Familie hier Zeit zu verbringen und sie besser kennenlernen zu können.
Der Weg bis dahin war ein langer. So hatte ich mich weit zum Voraus für die Pestalozzischule angemeldet und den Flug gebucht. Die Frage nach einer Unterkunft stellte für mich kein Problem dar, da ich ja Verwandte in Lima habe. Um den halbjährigen Auslandaufenthalt dann wirklich auch antreten zu können, welcher im Juli startete, so dass ich wieder in die gleiche Klasse am Gym Muttenz zurückkehren können würde, benötigte ich einen Notenschnitt von 4.5 im Zeugnis. Um diesen zu erreichen, drückte ich aufs Gaspedal. Das Resultat meiner Mühe war verblüffend gut und die Bahn war nun frei für den Auslandaufenthalt.
Etwas später werden wir von meiner Tante gerufen und sie bietet uns eine heisse Schokolade an. «Mama, ich weiss, dass heute Weihnachten ist, aber trotzdem macht es keinen Sinn, heisse Schokolade bei dieser Hitze zu trinken. Lieber hättest du uns ein kaltes Erfrischungsgetränk gegeben!», sagt mein Cousin darauf. Ich kann mir das Lachen nicht verkneifen. Es ist echt lustig zu sehen, wie das Weihnachtsklischee hier nach Strich und Faden eingehalten wird. Schliesslich nehmen wir die Tassen und trinken sie aus.
Nach ein paar Stunden ist es soweit. Alle sind im Haus. Nun gehen wir zur Bäckerei, um die Truthähne abzuholen, die dort gelassen wurden, um gebraten zu werden. Wir sind so viele, dass zwei grosse Truthähne für das Fest eingekauft werden mussten. Die Truthähne werden in die Küche gebracht und zum Essen angerichtet. Nun fehlt nur noch das Gebet zur Ehre von Jesus Christus, dessen Geburt heute gefeiert wird, und dann kann das Essen und somit auch das Fest beginnen.
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