«Und was in allen Studienfächern gefordert ist, sind Synthetisierungsfähigkeiten.» 

Text: Entfalterteam, Bild: Daniel Nussbaumer

Im Anschluss an den Drehscheiben-Event hatte der Entfalter die Möglichkeit, mit den Sprachwissenschaftlerinnen Prof. Heike Behrens und Dr. Mirjam Weder ein Gespräch über ihre Erfahrungen zu führen, und offene und unklare Fragen zu klären.  

Entfalter: Was sind Ihre Erfahrungen mit den Maturand:innen? Beherrschen sie die deutsche Sprache? 

Behrens: Es gibt sicherlich Probleme an den Ecken und Enden sozusagen. Gerade Aspekte der Wissenschaftssprache, wie der formale und sachliche Ausdruck, bereiten vielen Studierenden Mühe.

Weder: Auch die Bedeutung des Fachwortschatzes und der akademischen Routineformeln ist vielen Studierenden nicht oder zu wenig bewusst. Fachwörter sind nicht Synonyme, die man durch Alltagsausdrücke ersetzen kann. Fachwörter gehören zum Anspruch der Wissenschaftssprache, sehr genau und präzise zu sein. Es ist häufig so, dass die Muttersprachler denken, dass sie das nicht brauchen. Sie begreifen eben dieses lebenslange Lernen nicht. An der Universität werden die Studierenden quasi sprachlich neu sozialisiert und das Bewusstsein darum ist, glaube ich, wichtig. Mit der Matura ist der Lernprozess nicht abgeschlossen.

Aber ist es nicht ein Ding der Unmöglichkeit, die Studierenden auf das Studium eines x-beliebigen Faches vorzubereiten, während gleichzeitig jede Studienrichtung über ihre eigenen Konventionen und Fachwörter verfügt? 

Behrens: Nun ja, das mag für die formalen Anforderungen und das Fachvokabular zutreffen. Aber beispielsweise in der Darstellung von empirischen Daten, da gibt es gar nicht so viele Unterschiede zwischen den Fachbereichen, denke ich. Das Prinzip ist immer dasselbe: Darstellung der Prozeduren, Darstellung der Ergebnisse, Präsentation der Ergebnisse unabhängig von der Interpretation, sodass deine Ergebnisse auch unabhängig von deiner Interpretation gedeutet werden können. Und was in allen Studienfächern gefordert ist, sind Synthetisierungsfähigkeiten.

Was verstehen Sie unter Synthetisierungsfähigkeiten?  

Behrens: Das bedeutet, dass man verschiedene Positionen gegeneinanderstellen kann und schaut, wo und inwiefern sie sich widersprechen oder nicht. Das bedingt, dass man Positionen auseinanderhalten halten und gegeneinander abgrenzen kann.

Weder: Es geht darum, Informationen zu integrieren. Viele Studierende, wenn sie an der Uni beginnen und beispielsweise ein Referat halten zu einem bestimmten Thema, wählen dann aus den drei bis vier Positionen jene aus, die sie am besten verstehen und fassen diese zusammen. Einige Semester später schaffen sie dann eine Art Forschungsübersicht, indem sie Informationen addieren, ohne diese in einen sinnvollen Zusammenhang zu bringen. Aber genau das müssten sie eigentlich tun.

Kann man diese Fähigkeit am Gymnasium bereits anbahnen?  

Weder: Natürlich. Ich denke an das materialgestützte Schreiben, wo die Schüler:innen systematisch durch das Erarbeiten von Informationen von verschiedenen Quellen und Positionen ebengenau diese Integration stufengerecht üben. Das könnte man auch in kleinen Schreibaufgaben machen. Unter dieser Perspektive erfüllt der am Gymnasium beliebte Erörterungsaufsatz eigentlich sein Ziel nicht, mal abgesehen davon, dass man im realen Leben kaum darum gebeten wird, vier Seiten zu einer kleinen These zu schreiben, ohne irgendwelche zusätzlichen Materialien. Und der Lernerfolg ist wahrscheinlich gering. Vielleicht wäre es viel besser, kleine argumentative Texte zu verfassen: beschreiben, zusammenfassen, argumentieren, synthetisieren. Und das dafür häufiger.

Wenn die Argumentationsfähigkeit schon relativ früh ansetzt, dann müsste das Argumentieren bereits auf Primarstufe gefördert und gefordert werden? 

Behrens: Absolut. Insbesondere das Vokabular ist dann greifbarer, weil man das auch schon von früh an hat. Um ein Beispiel zu machen: Die Studierenden sind auffallend gut darin, ihre eigene Meinung zu bilden und diese auszudrücken, weil sie sich das von der Schule her schon gewohnt sind. Im Gegensatz zum allgemeinsprachlichen Gebrauch des Argumentierens, das heisst die eigene Meinung zu vertreten, bedeutet wissenschaftliches Argumentieren jedoch, die Argumente mit Belegen zu stützen beziehungsweise zu hinterfragen. Bereits früh und regelmässig an der Fähigkeit einer sachlich gestützten Argumentation zu arbeiten, würde auch die Abrufbarkeit von Wissen fördern und diese Fähigkeiten automatisieren.

Was bedeutet diese Automatisierung genau?  

Behrens: Wenn man eine komplexe Aufgabe hat und einzelne Aspekte wie das Vokabular sind schon geläufig, fällt einem die Formulierung, der Satzbau leichter, als wenn alles unbekannt ist und man an zehn Baustellen gleichzeitig arbeitet. Die entsprechenden Formulierungen greifbarer zu haben, hilft dann natürlich bei der Rezeption und Produktion.

Weder: Es wäre auch durchaus sinnvoll, dass man am Gymnasium schon lernt, Diagramme zu lesen, Sachtexte zu verstehen oder auch manipulative Texte zu erkennen. Das muss aber auch nicht unbedingt im Deutschunterricht passieren, das kann natürlich auch in anderen Fächern geleistet werden.

Also ist Schreiben der Weg zum Erfolg?  

Weder: «Reading to write» ist treffender. An der Uni werden neue Textsorten grundsätzlich nicht mehr explizit vermittelt. Es ist wichtig, dass die Schüler:innen und Studierenden, wenn sie eine neue Textsorte treffen, schnell und effizient formale, kommunikative und inhaltliche Merkmale erkennen können, also die Analysefähigkeit besitzen. Aber das ist ja dann auch eine Fähigkeit, die für die Schüler:innen in Beruf und im beruflichen Schreiben eine Rolle spielt. Und das kann man schon gut auf dem Gymnasium anleiten, dass die Schüler:innen üben, eine neue Textsorte zu analysieren und versuchen, das Muster selbst zu erarbeiten.

Dann wäre das eine Form des Analysieren-Lernens?  

Behrens: Genau, dass ich weiss, wie bestimmte Texte aufgebaut sind. Klar, die Schule kann nicht die Struktur einer Klageschrift oder einer Urteilsbegründung vermitteln, aber sie kann gute Sachdarstellungskompetenzen und Lesefähigkeiten lehren. Die fachspezifischen Anforderungen sind dann Sache der Universität, beziehungsweise der einzelnen Fakultäten. Aber für die Studierenden ist es hilfreich, wenn sie einen guten Wortschatz haben, wenn sie Argumentationsstrukturen und Textstrukturen analysieren können. Und das ist ja auch eine Aufgabe, die nicht genuin Teil des Deutschunterrichts ist. 

Weder: Genau, und Quellenkritik kann man überall üben: Woher kommen die Inhalte, die da verarbeitet sind? Was wird belegt? Was wird behauptet? Und so weiter.

An der Drehscheibe wurde über den Sinn und Zweck der Maturarbeit diskutiert. Es mangle am Lerneffekt, da keine Überarbeitung getätigt wird. Stimmen Sie dem zu?  

Weder: Das ist ein Problem, das wir hier auch haben. Du hast eine Schreibaufgabe, sei das ein Aufsatz oder eine Proseminararbeit, die gibst du ab, und es wird korrigiert. Aber da ist keine institutionalisierte Korrekturschleife vorgesehen, weil diese Lernanlässe auch gleichzeitig Bewertungsanlässe sind. Und das ist ein Problem: Es braucht auch Zeit, um formative Schreibanlässe zu haben, also einfach Lernanlässe. Der Kern liegt aber in der Überarbeitung und den Rückmeldungen. Die Frage ist hier, welche Form der Rückmeldung konstruktiv ist für die Zukunft und eine Art der Anleitung beinhaltet?

Behrens: Ich glaube auch, dass unsere Studierenden nicht immer das Bewusstsein dafür haben, dass ein fertiger publizierter Text meistens zehn Runden durchlaufen hat. Die Überarbeitung und Erarbeitung dieser Schreibaufgaben kann man dafür interaktiv machen, indem man sich gegenseitig korrigiert und an besseren Formulierungen arbeitet. Häufig kommt genau in diesen Momenten dann die eigentliche Befriedigung im Schreibprozess. Am Anfang ist vieles noch unscharf formuliert, stimmen die Logik und die Übergänge noch nicht. Wenn man sich dann da nochmals in den Text reinkniet, um  bessere Formulierungen zu finden oder Widersprüche aufzulösen und argumentative Lücken zu füllen, stellt man fest, dass der Text besser wird und man die Techniken des Überarbeitens beherrscht.

Aber wie viel braucht es denn, damit ich realisiere, dass mein Text nicht gut ist, dass eine Aussage nicht präzise genug ist?  

Behrens: Genau da käme das Interaktive ins Spiel, dass man gemeinsam guckt, was willst du da eigentlich sagen, und wie könnte man das formulieren. Etwa wie es die Studentin am Event beschrieb in ihrem kreativen Schreibunterricht: An die Adressaten denken und schauen, dass die Botschaft so klar wie möglich ankommt.

Weder: Ich denke, wenn Schüler:innen die Texte von anderen lesen, dann merken sie vielleicht schneller, was schwierig ist. Dann hofft man natürlich, dass dann ein Transfer auf das eigene Schreiben erfolgen kann. Dazu braucht es gute Kriterienraster, anhand derer man die Texte anderer und vielleicht auch die eigenen dann beurteilt. Das ist eigentlich das Wichtigste, dass die das auch an fremden Texten machen und dann möglichste viele dieser Punkte auf das eigene Schreiben transferieren können. Ich glaube es ist ein magisches Denken von Lehrpersonen, dass sie glauben, wenn sie seitenlange Rückmeldungen auf Texte schreiben, die Schüler:innen nachher bessere Texte schreiben.

Wo also besteht der dringendste Handlungsbedarf? 

Behrens: Es braucht sicher eine belastbare Basiskompetenzen, von Orthografie bis Satzbau. Also belastbar in dem Sinne, dass das automatisiert ist.

Weder:  Es ist unglaublich wichtig, dass man das bis zur Matura hin übt, und zwar auch den Umgang mit der Textkorrektur in Word. Und dann auch die Synthetisierungsfähigkeiten oder das materialgestützte Schreiben muss man wirklich implementieren am Gymnasium, wenn das nicht schon vorher passiert ist.

Behrens: Es muss auch in allen Fächern geschrieben werden. Textsortenbausteine müssen in allen Fächern geübt werden. Und es ist problematisch, die Sprache in den Nicht-Sprachfächern nicht zu bewerten. Wenn ich davon ausgehe, dass die Schüler:innen für jedes Studium vorbereitet sein sollen und sie mit mit ihrer Matura alles studieren dürfen, müssen sie auch in Mathe und Geographie korrekt und fachspezifisch schreiben können.

Heike Behrens ist Professorin für kognitive Linguistik und Spracherwerbsforschung an der Universität Basel. Zu ihren Forschungsschwerpunkten gehören unter anderem der Erstspracherwerb und die Sprachverarbeitung.  

Mirjam Weder ist wissenschaftliche Mitarbeiterin und Universitätsdozentin an der Universität Basel. Ihr Forschungsschwerpunkt liegt unter anderem in der Schreibforschung